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Grün mit Häusern drin

■ Von den Türmen der Stadt bieten sich überraschende Perspektiven: Über die Weser führt eine „Brooklyn-Bridge“und selbst Tenever wirkt von oben irgendwie harmlos

Die Alpenländler haben es leicht. Heizt die Sonne die Straßen auf und läßt Schweißtropfen perlen, steigen sie einfach auf einen Berg vor der Stadt und lassen sich frischen Wind um die Nase wehen. Das kühlt ab und bietet manch ungewöhnlichen Blick auf heimatliche Gefilde. Und der Bremer? Verdorrt in der Obernstraße, gebraten am Osterdeich? Den Blick immer knapp über dem Erdboden, gerade mal bis zur nächsten Häuserwand, zur nächsten Baumreihe? Die Bremer Welt eine Welt aus der Froschperspektive? Nein, denn die Stadt hat Türme mit Fernsicht und Luftzug.

Nichts liegt näher als der Dom. Eine Mark kostet der Eintritt ins klimatische Paradies auf der Turmspitze. Doch die will erklommen sein, 256 Stufen, Schritt für Schritt. Rechtsrum wendelt sich die Treppe in die Höhe, eine Hand am stählernen Geländer geht es zunächst hurtig hinauf. Stufe 80, Schweißtropfen sammeln sich auf der Stirn, leichter Schwindel kommt auf. Die Luft steht und riecht muffig wie auf Omas Dachboden. „Boedefeld und Poldi“sind auch schon mal so weit gekommen, steht an der Mauer. Also bloß nicht schlappmachen.

Mit jedem Meter wächst die Anzahl der Grafittos, auf halber Turmhöhe eine Etage zum Ausruhen. Die wieder nach unten steigen lächeln mitleidig.

Das letzte Stück hat es noch mal in sich. Gerade mal schulterbreit ist der Gang, doch von oben weht bereits eine kühle Brise in den Schacht. Erst die Arbeit und dann...

Endlich verschwitzt oben angekommen weht der Wind so richtig kalt. Auch das „o.b.-Team“hat seine Initialen in die Mauern gegraben und sich die Stadt 62 Meter weiter unten durch die vergitterten Rosetten des Turmes beschaut.

Die Nase dicht an den Draht gepreßt reicht der Blick Richtung Süden bis weit hinter den Bremer Flughafen. Hinter dem träge rotierenden Radarschirm zeigt sich der grüne Gürtel Bremens, scheinbar etwas höher gelegen als die Stadt selbst. Die Windräder bei Brinkum bilden den Schlußpunkt der Sichtachse, dahinter wird es diesig.

Die erhöhte Perspektive verändert das Bild der Stadt. Vom Dom aus gesehen hat auch Bremen seine kleine „Brooklyn-Bridge“, zumindest virtuell. Im Blickwinkel schieben sich Stephaniebrücke und die nur ein paar Meter weiter westlich gelegene Eisenbahnbrücke zu einer einzigen, autobefahrenen Hängebrücke aus Stahl über die Weser zusammen. Autos kurven wie Fremdkörper auf dem Dach des Parkhauses an der Lloydstraße. Gehören Autos nicht auf die Straße? Verkehrte Welt.

Doch ein Turm ist nicht genug, wer weiß schon, was für überraschende Einsichten in Bremen noch möglich sind. Vielleicht vom Fahnenturm der Bremer Baumwollbörse, nur wenige Meter entfernt in der Wachtstraße?

Im Schlepptau des Hausmeisters geht es hinauf auf das 42 Meter hohe Flaggentürmchen, erst mit dem Paternoster, dann zu Fuß die Treppen hinauf, durch des Hausmeisters Trockenboden und ein kleines Lüftungsfenster auf das geteerte Dach. „Stolpern sie nicht über die Blitzableiterdrähte.“„Manhattan“, sagt er, „liegt da drüben“und zeigt mit langem Arm auf die Blöcke von Tenever. Auf der Dachterrasse der Rathsapotheke am Markt schaukelt ein gelber Baldachin im Wind. „Da wohnt ein Kollege von mir, da werde ich richtig neidisch.“Im Süden landet ein Flugzeug, und kurz bevor es hinter den tiefer gelegenen Häusern der Neustadt verschwindet, sieht man von oben den Flugzeugrücken in der Sonne blitzen. Der Blick schweift hin und her über die rostroten Dachziegel der Altstadt und bleibt am Halbrund des Himmelssaals in der Böttcherstraße hängen. Ein Lüftungsrohr saugt grummelnd Frischluft ein. Darüber hinweggeschaut lockt auf der anderen Weserseite das nächste Ziel, die Hochschule am Neustadtswall.

Besucherfreundlich schießt der Fahrstuhl die zehn Stockwerke hoch auf das Staffelgeschoß der Hochschule. Lohnte bisher der Blick in die Ferne, bieten sich hier persönliche Einsichten ins neustädtische Balkonien. In der Großen Johannisstraße gehören Topfpflanzen, Gartenzwerge, Windmühlchen und der Grill für 19 Mark 80 zur Grundausstattung heimischer Gemütlichkeit. Da läßt es sich prima sonnenbaden. Fensterln lohnt sich, arglos gewähren die Neustädter Einsicht in ihre Kochtöpfe.

Doch der Mittagstisch nebenan ist nicht der Einsicht letzter Schluß, es fehlt noch die richtige Fernsicht. Die bietet der Fallturm der Universität.

Die 133 Meter auf die Besucherplattform schafft der Fahrstuhl in 40 Sekunden. Höher gehts in Bremen nimmer. Der Wind streift kalt übers Gesicht, reißt die Worte weg.

Auf dem letzten Stückchen Bremen vor der sich windenden Wümme herrscht heile Welt. Kühe reißen Gras aus dem Boden und Heu aus den hingestreuten Heuballen. Dunkle Wolkenplacken ziehen über sie hinweg, Dunstschleier treiben auf Augenhöhe vorbei, am Horizont der Weiherberg. Da liegt Worpswede.

Mit der Idylle hat es diesseits der Autobahn nach Bremerhaven ein jähes Ende. Autolärm dringt herauf. Die Uni – eine einzige Baustelle. Mittendurch zieht sich die Gleisraupe der zukünftigen Linie 4 und endet in einer Wendeschleife direkt an der Autotrasse. Blaue Plastikplanen bedecken das Dach der abgebrannten Mensa, die unteren Stockwerke des benachbarten Wohnheims sind mit Holzplatten vernagelt. Der gelbe Imbißwagen nebenan hofft wohl auf das große Geschäft.

Eines wird klar dort oben: Bremen ist keine Großstadt, sondern Grün mit Häusern dazwischen. Selbst Tenever erscheint aus der Entfernung wie ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Irgendwie harmlos, das alles.

Christian Sywottek

Der Domturm ist geöffnet bis zum 1. November: Montag bis Freitag von 10 Uhr bis 16.30 Uhr, am Samstag von 10 Uhr bis 11.30 Uhr, Sonntag und Feiertag von 14 Uhr bis 16 Uhr. Die Aussichtsplattform im Fallturm kann gemietet werden: Montag bis Freitag, maximal 14 Personen, Mindestpreis 150 Mark, Infos und Anmeldung unter 2184107.

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