Auch in Bremen lebt Alfred Hrdlicka nicht

■ Die documenta X erzählt nicht nur viel über das Verhältnis von Kunst und Leben, sondern auch über Bremen

In Bremen ist nix los, mosert der klassische, also selbstzerknirschte Bremer. Nimm nur mal die documenta, so geht der Klagegesang weiter: nur ein einziger Bremer Künstler ist dort vertreten, Patrick Faigenbaum, und der ist in Wahrheit aus Paris und verläßt Bremen in einer Woche wieder. Der hat's gut. Und seine Fotos, die zeigen Bremen da, wo es nicht als Bremen zu identifizieren ist: fensterlose Ziegelmauern, verlorene Gestalten. Bremen undercover, quasi, als Metapher für die anonyme Stadt. Kein Bremen also in Kassel!

Welche Blindheit, welche Ignoranz. Auf Schritt und Tritt begegnet man unserer Heimatstadt auf der documenta X. Man muß nur sehen – und hören.

„Die ist richtig süß, die David“, schwärmt ein Ausstellungsaufbauhelfer. „In Wahrheit ist sie gar nicht sooo. Sie ist nur schüchtern. Versucht sich darüber hinwegzuretten mit mißlungener Rotzigkeit. Und Schüchternheit muß man heute lieben, ja anbeten, wo sie doch so selten geworden ist, wo schon Fünfjährige in Talkshows über ihre Onaniererlebnisse erzählen. Wie die David auf einer Pressekonferenz eine halbe Stunde lang stur ihr sogenanntes Konzept runterlas, faszinierend anti-telegen; da waren in ihrem ellenlangen Sermon drin versteckt ein paar Erklärungen, warum relativ wenig afrikanische Kunst zu sehen ist, trotz global village, „Dekolonialisierung in der Kunst“und so; wurde sie doch dann prompt gefragt, was denn mit der afrikanischen Kunst sei. Da blaffte sie nur: Hätte sie schon gesagt, hätte sie keine Lust, das jetzt nochmal zu sagen. Suuuper! Was da aussieht nach Arroganz, ist nichts anderes als Schüchternheit. Glaub's mir.“Auch in Bremen gibt es schüchterne Leute, die arrogant wirken. Allerdings gibt es dort auch arrogante Leute, die zu Tarnzwecken schüchtern wirken. Ganz sicher gibt es in Bremen Menschen, die es gerne hätten, daß man ihnen glaubt.

Wir glauben dem Aufbauer. David wird wohl lieb sein, ihr „Konzept“aber strengt an. Bemüht „die Rezeptionshaltung des Spaziergangs und den ,Kirmeseffekt' in Grenzen zu halten“, bekommen nur ein paar Fußgängerunterführungen zwei, drei Brocken Kunst ab. Die sperrhölzernen Raumerkundungen von Hélio Oiticia bis Stephen Craig und Thomas Schütte zum Beispiel sind ja sooo spaßig! Oder! Die geduldsfordernden, zeitraubenden Videoinstallationen so verdauungsförderlich wie eine Achterbahnfahrt? Kaum Kunst im Park also. Nur ja keine Verwechslung mit Phil Collins-open air-Seligkeit. Wenig Kunst in der Stadt. Die Folge: Kunst hakt man ab. Und geht danach in zu den Bäumen mit Wurstsemmel, Eis und guter Laune. Nicht unbedingt im Sinne der Erfinderin. Tatsächlich sieht man wenig Besucher, die sich vor einem Kunstwerk (geistig) niederlassen. Viele würden wohl gerne mit Rollerblades durch die schwülen, überfüllten Räume gleiten. Allenfalls liest man im Katalog, daß dies und jenes Objekt zum Umdenken, Hinterfragen, Visionieren anregen möchte, und geht weiter. Umdenken. Kann man ja immer noch zuhause tun. Könnte man. Tut man. Nicht. Auch in Bremer Parks gibt es übrigens nur wenige Exemplare zeitgenössischer Kunst.

Kunst, die für Massenbesichtigungen schlicht ungeeignet ist, zwingt die Besucher (zumindest an den Wochenenden) zum Anstehen. Vielleicht ein Trick: eine heimliche Installation, die an alte DDR-Zeiten erinnern und auf den Warencharakter von Kunst verweisen möchte? Jedenfalls: Man reiht sich ein, etwa vor Mariella Moslers Musterungen in Sand, denkt sich „bin ich blöd, hier ist doch keine Wursttheke, ich gehe“, wartet weiter, natürlich, darf endlich einen flüchtigen Blick nach Kunst werfen, es schießt verwaschen durchs Hirn: „Irgendwie Frank Stella-Strukturen“, schon ist man von Nachschiebenden abgedrängt. Tatsächlich keine Kirmes! Auch in Bremen ist gerade keine Volksfestzeit.

„Zweieinhalb Monate haben wir für den Aufbau gebraucht“, erzählt der Freund des ersten Aufbauers. „Allein das Auspacken, eine Tortur. Wo die Rekordmarke liegt? Bei einem Paket dauerte es einen halben Tag. Das Zeug muß gut verschnürt sein aus versicherungstechnischen Gründen. Ein älterer Kollege hat erzählt, US-Kunst sei in der Versicherung teurer als andere. Amis leben ja fast nur noch von Versicherungen. Für manche Künstler ist so eine Austellung eine riesen Chance. Die gehen am Ende mit der Lupe über ihr Kunstwerk. Aha, hier ein Kratzer, dort ein Fleck, und das kostet dann. Kaufen tut's ihnen ja keiner, huähuähuä.“Blöder Stammtischzynismus. Aber: Auch in Bremen wird nicht alles gekauft, was im Angebot ist.

Apropos kaufen: Zur documenta gibt's T-Shirt und Schirmkäppi. Man ist schließlich nicht verklemmt, spielt virtuos auf der Klaviatur der Konsumgesellschaft, Kirmeseffekt hin oder her. Natürlich ohne sich zu verbiegen. Ein bißchen Verweigerung gegenüber dem Massengeschmack sollte aber dezent durchklingen. Schwarz also! Einfach nur so, wie Sartres Rollkragenpulli oder Yves Kleins Blau, sind die Devotionalien. Darauf nur „d“und „X“, schlicht als sei's von Piet Mondrian designt. Das Konzept geht auf. In zwei Tagen Kassel keinen einzigen Menschen in den Dingern rumlaufen gesehen. Nicht einmal die Akte X-Fans nehmen sich der Kleidkunst an.

„Meist klappte der Aufbau nicht auf Anhieb. Oft mußte man's zwei- dreimal versuchen. Dann die vielen Arbeiten, die der Besucher nicht sieht: zum Beispiel das Anpinseln der Bildschirmgestelle.“

In Bremen übrigens werden TV-und Videogeräte meist betriebsbereit ausgeliefert. Was aber machte die Arbeit der Aufbauer so schwer? Viele Bildschirmgestelle hat es, weil viele Bildschirme flimmern sollen. Die wiederum tun das, weil es wenig Bilder gibt. Allenfalls einem Schwarzen aus Birmingham/Alabama, einem Minderheitenkulturzugehörigen, nämlich Kerry James Marshall, traut man es noch zu, die abgearbeitete, ranzelnde Leinwand zu neuem Leben zu erwecken; und der Grand dame der Selbsterkundung, Maria Lassnig, die in ihrem autobiographischen Kurzfilm so bewundernswert spöttisch aus ihrem Leben schwankt, in ihren Aquarellen hingegen grandios ernst-verschattet denkt wie Käthe Kollwitz. Kaum Gemälde also, denn: „Die letzte documenta des Jahrhunderts mußte sich...die Aufgabe stellen...die wichtigen Positionen zu sichten und neu zu durchdenken, die in den sechziger Jahren aufkamen.“Und die 60er waren eben ganz in Beschlag genommen mit dem Sprung weg von der Leinwand und der Reflexion der Kunst auf sich selbst.

Besucherstatement: „Diese documenta ist fleischlos. Kein sex, kein crime, nichts wo man sein eigenes Leben widergespiegelt fühlt. Viel Hirngewichse. Da sehne ich mich plötzlich nach Alfred Hrdlicka, Muskulatur, geknechtet, geschunden, genial...“Auch in Bremen lebt Alfred Hrdlicka nicht.

Aber Installationen sind dann doch nicht alles. Wie ein roter Faden, der sich grau getarnt hat, ziehen sich kleine s/w-Fotos von Klassikern der amerikanischen Dokumentarfotografie durch das komplizierte Denken über Denken. Helen Lewitts unscheinbare Aufnahmen von Kindergraffitis, U-Bahn-Impressionen des großen Walker Evans, Garry Winogrand und immer wieder Robert Adams gießkannig über die ganze documenta gekippt. Diese weltverliebten Melancholiker halten drauf auf Gesichter, Straßen, Gebäude, relativ straight, gefiltert allenfalls durch einfache, klare ästhetische Kompositionsprinzipien. Genau an diesem Punkt wird die documenta X wirklich spannend. Hier reflektiert nicht Avantgardekunst über die traditionelle Kunst. Die Fragerichtung wird verdreht: Traditionelle Abbildkunst wird eingeladen, die zeitgenössische Kunst zu provozieren: Bilder und Texte sind nur Teil von bunten Flickteppichen, sagen die Objekte von „Art & Language“, nichts weiter als Möbel. Wir nicht, sagen die Straßenmenschen von Robert Adams. Wir bewegen uns durch Natur und Stadt wie fremde Astronauten, sagt Pawel Althamers skurrile Wohnmobilinstallation. Stimmt, sagen Walker Evans traurige Gesichter. Die Verständigung klappt verblüffend . Auch in Bremen versteht man sich. Manchmal.

Heikel allerdings alle Fusionen zwischen Realismus und Installation: die komplexe Filmprojektion von reisschleppenden Kindern der Dritten Welt weiß selber nicht mehr ob es jetzt um Engagement oder Metadiskussionen geht. Auch der Bremer weiß selten, um was es geht. Bei allen Reflexionsdrahtseilakten und Hinterfragungen der Abbildfunktion von Kunst hält dagegen ein „schlichtes“Dokumentarfoto erstaunlich gut stand. Bei tropischen Temperaturen und unfeinen Dünsten hält der Bremer Besucher nicht gar so gut stand. Er schweißt und geht.

Barbata Kern