: Wörtersalat fürs unbewußte Ressentiment
■ Die 20. Auflage der Brockhaus-Enzypklopädie versteht sich als „lexikalische Jahrhundertbilanz“, bleibt aber bei Schlüsselbegriffen immer noch widersprüchlich
Bis in die verstaubten Redaktionsstuben der ZDF-Nachrichten hält sich hartnäckig die verballhornende Sprachregelung von den „Moslems“. Wenn die Herrschaften dann einmal in das Buch hineingeschaut haben werden, für das ihre „Frontal“-Kollegen so eitel Werbung machen, werden sie vielleicht eines Tages endlich begreifen, daß es richtig „Muslime“ heißen muß.
Zwar ist der Band mit dem Buchstaben M noch gar nicht erschienen, aber die 20. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie sorgt schon vorher – wenigstens hinsichtlich der Muslime – für Eindeutigkeit: „7 Mio. Muslime flüchteten aus Indien nach Pakistan, 8,5 Mio. Hindus und Sikhs in umgekehrter Richtung. Etwa 2 Mio. Menschen starben auf dieser panikartigen Flucht“ heißt es beispielsweise unter dem Stichwort „Flüchtlinge“, das in sechs Spalten ausführlich abgehandelt wird.
Eine dünne blaue Linie weist den Artikel als „Schlüsselbegriff“ aus. Ebenso wie „Aids“ „europäische Integration“, „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Fundamentalismus“. Es bleibt allerdings undurchschaubar, was die Redakteuere unter „zentralen, oftmals kontrovers diskutierten Themen“ verstehen: „Fremdenfeindlichkeit“, beispielsweise. Argumente für Fremdenfeindlichkeit findet der Brockhaus kaum, aber doch mögliche Ursachen: „Dabei ist festzustellen, daß es nicht nur einzelne Akteure oder bestimmte soziale Gruppen sind, die zur Kompensation eigener Mißerfolge oder zur Mobilisierung im Sinne eigener Interessensdurchsetzung F.(remdenfeindlichkeit) nutzen, sondern ebenso kulturelle Eliten und Massenmedien.“
In sechs Lexikonspalten erörtert der Artikel Begriff, Geschichte und Erforschung der Fremdenfeindlichkeit. Alles ganz korrekt, doch ohne auf Widersprüche aufmerksam zu machen: denn zum Beispiel der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts grenzte ja gerade nicht „den Fremden“ aus, sondern den – oft seit Jahrhunderten – Ansässigen, den Nachbarn, den steuerzahlenden und kriegsdienstleistenden Mitbürger, der über das Konstrukt der Rasse erst kompliziert zum Fremden gemacht werden mußte.
Das Stichwort Antisemitismus (kein „Schlüsselbegriff“) weist zwar auf diesen Ausgrenzungsmechanismus hin, ohne jedoch den Widerspruch zu problematisieren. Schließlich wieder Wörtersalat oder sogar Beispiel für eigenes, unbewußtes Ressentiment. „Die konservative Kritik an dem stark von jüd. Intellektuellen getragenen kulturellen Leben und die nach 1918 verstärkte Einwanderung von Menschen jüd. Herkunft aus Ostmittel- und Osteuropa begünstigten – in Wechselwirkung – antijüd. Affekte und Agitationen im Dtl. der Weimarer Republik.“ Also doch: Selber schuld?
Der neue Brockhaus verzeichnet viele Namen, bei denen man sich oft genug fragt, ob ein Eintrag überhaupt gerechtfertigt ist. Leute, die vor ein paar Jahren häufiger in den Schlagzeilen der Medien vorgekommen, unterdessen aber schon längst wieder in der Versenkung verschwunden sind. Indes wundert man sich, wer alles fehlt, der russisch-britische Philosoph Isahia Berlin beispielsweise. Das ist natürlich das Grundproblem eines jeden enzyklopädischen Projekts: wen oder was läßt man weg? Was nimmt man hinein? Ein perfektes Lexikon wird vermutlich nie geschrieben werden. Allerdings: Die vermeintliche Stärke des Nachschlagwerks, seine Aktualisierung, ist potentiell zugleich seine größte Schwäche. Am deutlichsten wird das bei den Länderartikeln, die tatsächlich sehr aktuell berichten, bis einschließlich Sommer 1996. Aber was sollen all die Daten, Wahlergebnisse und Ministernamen? In ein paar Jahren werden sie obsolet geworden sein. Eine Enzyklopädie im Wert eines Gebrauchtwagens, die man in der Regel allerdings nicht alle paar Jahre gegen ein neueres Modell austauscht, sollte die bleibenden Wissensbestände sichern helfen, mehr Bilanzwerk sein, Nachschlagewerk über den Tag hinaus, als ein jährlich erscheinender Weltalmanach für den Preis zweier Kinokarten. Michael Schornstheimer
„Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden“, 20. Auflage 1996. Bisher erschienen: Band 1 bis 7, A–FRIS; Vorauszahlungspreis für 24 Bände 4.656 DM; pro Band 208 DM
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