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Vergöttert und mißbraucht

Indiens Parteien beanspruchen Mahatma Gandhis Erbe, von seinen Lehren wollen sie 50 Jahre nach der Unabhängigkeit aber nichts mehr wissen  ■ Von Rainer Hörig

Am 15. August feiert die zweitgrößte Nation der Welt Geburtstag. Vor 50 Jahren triumphierte sie in einer der längsten Revolten der Geschichte mit Bombenanschlägen und passivem Widerstand über die Weltmacht Großbritannien. Jetzt tüncht man das Land wieder in den Nationalfarben Orange, Weiß und Grün. Tausendfach erscheinen in Dörfern und Städten die Bilder des Mannes, der das Volk gegen die Briten mobilisiert hatte: Mahatma Gandhi.

In der Nacht zum Nationalfeiertag werden 300 ehemalige Freiheitskämpfer einen „Volksmarsch“ entlang der Paradeallee zum Präsidentenpalast in Delhi führen. Das Nationalparlament wird dann in einer Sondersitzung jener historischen Versammlung von Abgeordneten gedenken, die Premierminister Jawaharlal Nehru vor 50 Jahren zu brodelndem Applaus anspornte: „Zur Mitternachtsstunde, wenn die Welt schläft, wird Indien zum Leben und zur Freiheit erwachen!“

Für knapp die Hälfte der Bevölkerung gibt es allerdings wenig zu feiern. Sie waren unter den Briten hungrig und sind es noch heute. Slumbewohner, Ureinwohner und Dalits (so nennen sich die ehemaligen Unberührbaren) wollen die Geburtstagsshow mit Demonstrationen stören. Basisgruppen, Umweltschützer und Gewerkschaften rufen zur Bootsfahrt auf dem von gigantischen Staudammprojekten bedrohten Narmada-Fluß auf, um gegen die Liberalisierung der Wirtschaft und den wachsenden Einfluß multinationaler Konzerne zu protestieren. Im Sinne Gandhis fordern sie mehr Selbstverwaltung für die Dorfgemeinschaften und freien Zugang der Armen zu Trinkwasser, Wald und Weideland.

In jeder Stadt steht mindestens eine Statue des „Vaters der Nation“. Millionenfach lächelt der Mahatma (Hindi: Große Seele), hinter Glas gerahmt, in Amtsstuben und Privathäusern auf sein Volk herab. Politische Parteien von links bis rechts beanspruchen sein Erbe, von seinen Lehren wollen sie jedoch nichts wissen. Keine andere historische Figur Indiens wird so universell vergöttert und dabei so schamlos mißbraucht wie der kleine Mann mit dem Bambus. Seine Anhänger behaupten aber, Gandhis Botschaft habe nichts an Bedeutung verloren. „Der sogenannte Fortschritt basiert auf Ausbeutung von Menschen und Raubbau an der Natur“, meint Medha Patkar von der Protestbewegung gegen die Narmada-Staudämme. „Gandhis Maxime dagegen war Selbstgenügsamkeit. Sie führt uns automatisch zu einem Lebensstil, der sich auf die vorhandenen Ressourcen beschränkt.“

Gandhi erkannte, daß Indien in seinen Dörfern lebt und daß die Menschen erst dann wirklich frei sein würden, wenn sie ihr Leben selbst bestimmen und die Armut überwinden könnten. Also organisierte er Protestaktionen gegen überhöhte Grundsteuern und für bessere Löhne. Später rief er zum Verbrennen importierter Kleidung auf und propagierte die Arbeit am Spinnrad, damit jeder Haushalt selbst Stoffe herstellen könne. Sein Ziel war die Stärkung der Armen durch Selbstverwaltung in autonomen Dorfrepubliken. Am 30. Januar 1948, ein halbes Jahr nachdem er die erste Etappe, die Befreiung von der Kolonialherrschaft, erreicht hatte, wurde Gandhi von einem rechtsradikalen Hindu ermordet.

Gandhis politisches Genie bestand darin, den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit mit konstruktivem Aufbau für die Armen zu verbinden. Nach seinem Vorbild ist in Indien eine breitgefächerte Bürgerbewegung entstanden, die für soziale Reformen und den Umweltschutz kämpft, die Entwicklungsdienste in Zigtausenden von Dörfern und politische Lobbyarbeit für die Armen leistet. Die Basisgruppen demonstrieren heute, daß selbstbestimmte Dorfgemeinschaften die Armut überwinden und Naturressourcen schonend bewirtschaften können.

Parteinahme für die Armen führt mitunter zum Widerstand gegen staatliche und wirtschaftliche Interessen. Gandhis Schüler organisieren im Himalaya Bäuerinnen in der Chipko-Bewegung gegen den Raubbau an den Bergwäldern. Sie führen Kleinbauern im Narmada-Fluß im Widerstand gegen ein gigantisches Staudammprojekt. Mit Sitzblockaden und Fastenstreiks setzen sie erfolgreich Behörden und Politiker unter Druck. Wie einst der Mahatma tragen die Umweltschützer in Volksmärschen ihre Botschaft in die Dörfer.

Zur indischen Bürgerbewegung gehören auch jene ehrwürdigen Institutionen, die von Gandhi oder seinen Schülern gegründet wurden. Doch selbst wohlmeinende Geister belächeln die orthodoxen Gandhianer. Jagdish Godbole etwa, der im Sinne Gandhis ein Enwicklungsprojekt leitet, klagt, ihr Wirken übe keinen Einfluß mehr auf Gesellschaft und Politik aus: „Während sie in ihren Ashrams (indischen Kommunen) leben und Baumwolle spinnen, verlieren sie den Kontat zum Volk.“

Nach seinem Tod legten Gandhis Mitstreiter die Idee der Entwicklung von unten schnell zu den Akten. Unter Premierminister Nehru schlug Indien den Weg einer staatlich gelenkten Industrialisierung ein. Heute gehört Indien zu den fünfzehn wichtigsten Industrienationen. Staatliche Firmen konstruieren Atomkraftwerke, Satelliten und Raketen. Die Computerindustrie des Landes boomt. Doch das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich, zwischen Land und Stadt wird immer größer. Jeder fünfte Inder ist unterernährt. 25 Millionen Bürger besitzen kein Dach über dem Kopf, nicht einmal eine Slumhütte.

Der Giftgasunfall von Bhopal (1984) ist nicht die einzige Umweltkatastrophe geblieben. Heute sind alle großen Flüsse verseucht, über die Hälfte der Wälder zerstört, die Luft in den Städten verpestet. Wenn Gandhi heute wiedergeboren würde, müßte er sein Lebenswerk wohl noch einmal von vorne beginnen.

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