Ein abgelegtes Ohr auf der Wiese

■ Ausstellung zum vierten Symposion auf Deutschlands einzigem Künstlerinnenhof „Die Höge“

Die Sonne scheint, der Horizont gähnt, das Huhn legt ein Ei. Unendlich friedlich scheint die Stimmung, in der die 17 Häuser von Högenhausen hocken wie im Einmachglas. Hier, zwischen Bassum und Syke, gerät nichts aus der Spur, die sich so bewährt hat gegen alle Begradigungsversuche von Flurbereinigung und Moderne. Mit der Verläßlichkeit eines Traktors tuckert das Leben zwischen Feldern und Gemüsebeeten dahin, beharrlich voran in einer erholsam schwerfälligen Langeweile.

Doch plötzlich stolpert das Auge, fällt über ein riesiges Ohr, das aus Metallstäben errichtet aus dem Acker ragt. In einiger Entfernung bringt mitten auf der Weide ein Windstoß eine fragil gebaute Jurte zum Schwanken, die sich kaum als Unterstand für Kühe eignet. Nicht genug: Im nahegelegenen Buchenwald erscheint just auf der Höhe, wo gewöhnlich Holzfäller ihre Markierungen in die Bäume ritzen, plötzlich ein Gedicht. Keine Naturschutzprosa, nichts Romantisches, eher ein Akt der Auflehnung gegen die Idylle ringsum. „Du mußt dich vor dieser Idylle hüten“, mahnt die Künstlerin Doris Cordes-Vollert sich selbst und findet Zustimmung bei ihrer Kollegin Traud–l Knoess. „Dieser Ort ist so schön, daß er an sich schon eine Konkurrenz zur Kunst ist.“

Dieser Ort ist die „Höge“, Deutschlands einziger Künstlerinnenhof. Er wurde vor zwei Jahren von Barbara Baum und Barbara Reinhart gegründet, um Frauen aus verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen künstlerischen Sparten einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre Kunst weiterentwickeln und öffentlich präsentieren können. Das Konzept scheint aufzugehen. Die früheren Symposien, bei denen u.a. bildende Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Musikerinnen zusammen agierten, fanden bundesweit großen Anklang.

Beim vierten Höge-meeting, das vor zwei Wochen begann und dessen Ergebnisse am Sonntag erstmalig der Öffentlichkeit gezeigt werden, liegt der Schwerpunkt bei der bildenden Kunst. Doris Cordes-Vollert (Hamburg), Christine Hoffmann (Osnabrück), Traud–l Knoess (Wilhelmshaven), Angela Kolter (Bremen), Henriette Leinfellner (Wien) und Etta Unland (Oldenburg) folgten der Einladung, außerdem die Literatin Susanne Amatosero (Hamburg). „ganz nah“lautet das Thema, mit dem sie sich zur Zeit auf der Höge auseinandersetzen, in Überwindung mancher Vorurteile und Klischees. Denn die Vorstellung, so nah und nur mit Frauen zu arbeiten, erfüllte die meisten zunächst mit mindestens so großer Skepsis wie die Idylle und scheinbare Weltabgeschiedenheit der Högenhauser Geestlandschaft.

Christine Hoffmann suchte „ganz nah“das Weite und fand es auf der Kuhweide vor dem Hof. Dort errichtete sie aus Ästen ihr beinahe drei Meter hohes „Zelt“, sechseckig gebaut wie eine Bienenwabe, die „Urzelle der humanen Architektur“. Wer sich ins Zentrum der begehbaren Skulptur wagt, sieht über sich den Kristall des Himmels, „Ferne wird nah“und läßt Träume und Sehnsüchte nomadisieren.

Das „Ohr“, das Etta Umland in die Erde punktierte, fordert, getreu ihrer letzten Arbeiten, thematisch zum Blick nach Innen auf. Diese Art des „ganz nah“-Seins, des unter die Haut-Gehens gehe mit einer gewissen Erschöpfung einher, gesteht die Künstlerin, und so habe sie einfach ihr Ohr ablegen wollen. Sie positionierte es mitten hinein in die Wiese, wobei die Metallstäbe wie Gräser den Bewegungen des Windes untergeordnet sind.

Die Weitläufigkeit des Geländes ließ alle Beteiligten aufatmen, engte gleichwohl die verbleibende Zeit ein. Traud'l Knoes litt unter „zu vielen Ideen“, bis sie sich in die Scheune zurückzog, um die eine zu verwirklichen. Sie breitete einen Teppich aus Gehölz aus, darüber flattern die transparenten Seiten eines riesigen Buches – Gedichte über die Nacht und die Liebe, die leise aus dem Spiegel zwischen dem Geäst zurückwinken.

Zwei Tage brauchte Angela Kolter, um die richtige Inspiration am richtigen Ort zu erheischen und dort zu verankern. „Ganz nah sein heißt für mich: wahr-nehmen, was ist.“Wie bei ihren früheren Land-Art-Arbeiten etwa im Moor geht es ihr eher darum, einen Ausdruck zu finden für die Kreisläufe von Nehmen und Zurückgeben, von Werden und Vergehen. Ganz nah beim Haus stach sie Grassoden aus, säte Gerste und ließ so das Wort „SEIN“förmlich aus der Erde wachsen, das dem „LASSEN“in verblühter Strohform zuvorkommt. Eine zweite Arbeit der Bremerin findet sich im nahen Buchenwald, wo sie eine ovale Form mit Holzkohle auslegte, in deren Mitte die liegende Gestalt eines Menschen zu erkennen ist.

Wenige Meter davon entfernt hat Henriette Leinfellner den Wald mit Sisal in Räume zerteilt. Sie verschnürt dort jeweils zwei Baumstämme und schuf so ein dauerndes Wechselspiel von Einsicht, Durchsicht und Aussicht. Während die Wienerin das erste Mal im freien Raum arbeitet, kann Doris Cordes-Vollert bereits auf vielfältige Erfahrungen zurückgreifen. Niemand wunderte sich, als sie bereits am zweiten Tag mit der Numerierung von Bäumen begann, um selbige hernach mit einer „Beschreibung“zu versehen. Einzelne Worte, verteilt als Band auf den Bäumen, ergeben, vom Zentrum aus gelesen, nicht nur einen Innenraum, sondern auch einen zusammenhängenden Text: eine poetische Tagesbeschreibung des Ortes. Geradezu hinterhältig bindet die Künstlerin so ihr konkretes Erleben in die Perspektive der BetrachterInnen und bestimmt deren Horizont.

Wieviel der Buchenwald mit Sprache zu tun hat, dieser Frage geht die Schriftstellerin Susanne Amatosero nach. Der Buchstabe nämlich ist ein Ableger des Buchenstabes, in welchen die Germanen weiland ihre Runen schnitzten. Die Rune wiederum ist von seiner ursprünglichen Bedeutung her auch geflüstertes Geheimnis, Klang also und Laut – ein Zusammenhang, der sich in afrikanischen Sprachen noch am ehesten bewahrt hat. Diese Dualität zwischen den Buchstaben, dem Alphabet und seinem Klang will Susanne Amatosero thematisieren und wird am Sonntag einen musikalischen Text lesen, der mit Spannung erwartet wird.

Die intensive Beschäftigung mit dem Wort ist ein Charakteristikum dieses Symposions. „Wörter sind Anstöße zur eigenen Wahrnehmung“, erklärt Doris Cordes-Vollert dieses Phänomen. Solche Anstöße erhält das Ausstellungspublikum reichlich durch die in den vergangenen zwei Woche auf der Höge entstandenen Arbeiten. Doch auch die Künstlerinnen nehmen diesbezüglich vieles mit nach Hause. Selbst hartgesottene Zweiflerinnen schwärmen vom kreativen Miteinander des Symposions, und alle sich sich einig: „Die Höge ist kein Reservat, sondern ein Reservoir!“ Dora Hartmann

Die zwei Monate währende Ausstellung wird am Sonntag um 14 Uhr von der Oldenburger Kunstwissenschaflerin Prof. Dr. Silke Wenk eröffnet