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Letzte Schicht an Schiessers Backöfen

Nachdem Aldi kein Brot mehr vom dubiosen Großbäcker Horst Schiesser haben will, bricht der Konzern zusammen. Seit Monaten warten die Angestellten vergeblich auf ihren Lohn  ■ Aus Wernigerode Annette Jensen

Leo Hossinger schiebt ein Blech mit 40 blassen Teigklößen auf ein Drahtgitter. Langsam verschwinden sie im Schlitz des 25 Meter langen Ofens – ein hellgestrichener Quader mit einigen Ventilrädern und Temperaturuhren an der Seite. „Das waren die letzten. Vielleicht die allerletzten“, sagt der Bäcker mit leiser Stimme und versucht zu lächeln. Der Mann mit dem schwarzen Schnauzbart schaut auf die Uhr am Ende der Werkhalle, die über den blankgescheuerten Knetmaschinen hängt. Schon wieder hat er eine Überstunde gemacht. Doch die Kollegen von der Spätschicht sind nicht erschienen. Wozu auch? Die letzten zwei Tonnen Mehl sind gerade zu Baguettebrötchen verarbeitet worden – jetzt gibt es endgültig nichts mehr zu tun in der Harz- Bäckerei in Wernigerode.

Seit drei Monaten warten die 150 Leute in dem ehemaligen Treuhandbetrieb auf ihren Lohn. Immer wieder haben die wechselnden Geschäftsführer in den letzten beiden Jahren vor der Alternative gestanden, entweder die Leute zu bezahlen oder Mehl, Salz und Folien einzukaufen, erzählt Dieter Parzyk, stellvertretender Leiter des Betriebsrats. Meist habe man sich für die Rohstoffe entschieden nach dem Motto: „Die Leidensfähigkeit der Ossis ist unbegrenzt.“

Auf keinen Fall sollte der Liefervertrag mit der Supermarktkette Aldi gefährdet werden. Er machte schließlich für den Mutterkonzern Geschi-Brot Schiesser & Sohn 90 Prozent des Absatzes aus. Das haben die Leute auch eingesehen. Denn allen war klar: Ohne Aldi ist Geschi mit seinen insgesamt 1.000 Angestellten in Ost- und Westdeutschland pleite. Doch genau danach sieht es jetzt aus, nachdem der Großkunde vor einer Woche den gesamten Vertrag gekündigt hat.

Seit Geschi vor ein paar Monaten die Tochterunternehmen in Holland und Belgien in den Vergleich geschickt hatte, gab es bei der Zusammenstellung der Lieferungen immer größere Lücken im Sortiment. Viele Laster wurden halbvoll zu den Billigsupermärkten geschickt, haben die Lkw-Fahrer auch den Bäckern in Wernigerode erzählt. „Das konnte Aldi nicht hinnehmen“, meint ein junger Betriebsratskollege verständnisvoll. So kam die schlimme Nachricht für die Belegschaft der Harz-Bäckerei nicht unerwartet.

„Wir mußten das, was wir am Vortag akkurat verpackt hatten, in Container schmeißen“, erzählt Helga Bahr und für einen Moment stehen der 58jährigen die Tränen in den Augen. Lebensmittel einfach wegschmeißen, die eigene Arbeit vernichten – das sei für sie das Schlimmste gewesen, schlimmer als das fehlende Geld und die Angst um den Job. Sie erinnert sich an die Nachkriegszeit: „Ein Brot, was hat das damals bedeutet! Und heute?“

Helga Bahr ist gekommen, um ein paar persönliche Sachen abzuholen und Kollegen zu treffen. Ratlos stehen einige Männer in kurzen Freizeithosen auf der Laderampe. Die meisten von ihnen arbeiten schon seit Jahrzehnten in der Harz-Bäckerei. Im Müllcontainer auf dem Hof lagern noch ein paar eingeschweißte Roggenbrote und Toasttüten, in denen der Schimmel blüht. Ein Arbeiter ist hineingesprungen und wirft mehrere unverdorbene Laibe über den Rand – Futter für seine Kaninchen. In der Luft liegt der Geruch von frischem Baguette.

Wer verantwortlich ist? Die Männer zucken die Schultern. „Unser Geschäftsführer hat auch nichts gewußt. Der hat aus der Presse erfahren, daß er abgesetzt ist. Dabei ist er erst seit vier Wochen hier.“ Auch kein böses Wort über die Treuhand, die den Betrieb 1991 zusammen mit vier anderen Großbäckereien an Horst Schiesser abgab – einen Mann, der schon mehrfach wegen seines Größenwahns in die Schlagzeilen gekommen war. Nicht nur hatte der Mittelständler vor elf Jahren kurzfristig die 190.000 Wohnungen und 17 Milliarden Mark Schulden der Neuen Heimat für eine symbolische Mark übernommen und sie wenig später für einen zweistelligen Millionenbetrag wieder verkauft. Nach der Wende wollte er gar die gesamte DDR-Wirtschaft sanieren und dafür 713 Milliarden Mark aus der Staatskasse haben – ein Vorschlag, der die Treuhand nicht davon abhielt, ihm später die wichtigsten Backbetriebe der Ex- DDR zu überlassen. Daß Schiesser sich mit den Investitionsverpflichtungen von 48 Millionen Mark übernahm, fiel dabei wohl auch deshalb nicht auf, weil er die Betriebe von verschiedenen Treuhandniederlassungen aufkaufte. Eine zentrale Erfassung der Investoren gab es damals nicht. Möglicherweise hat aber auch Dieter Kressin seine Finger im Spiel gehabt, der zuerst seinen Schreibtisch bei der Treuhand und später in der Chefetage von Geschi hatte.

„Dieser Schiesser ist ein Verbrecher, der gehört eingesperrt“, wettert ein älterer Kollege, über dessen beachtlichem Bauch ein Paar Hosenträger spannen. Vergeblich versucht er, seine Kollegen aus der Reserve zu locken. „Die Leute im Westen werden jetzt wieder sagen, wir ziehen den ganzen Laden in den Abgrund. Aber wir haben doch nur alten Kram von dort bekommen“, setzt er noch einmal an. „Ja, wir haben oft aus zwei alten Maschinen eine gemacht“, stimmt Wolfgang Simon zu. Doch seine Stimme bleibt ruhig. Was nützt es, sich aufzuregen?

„Ich war schon beim Arbeitsamt“, meldet ein neu dazukommender mit Motorradhelm in der Hand. Eine Stunde habe er warten müssen. „Einen Aushilfsjob für acht Wochen gibt es in Bad Harzburg, ansonsten Stellen in Braunschweig und Hannover. „Zu weit weg“, winkt Wolfgang Simon ab. Er hat ein Grundstück hier. Und Familie. Wenn das hier nicht wieder in Gang kommt, dann wird er wohl Hausmeister werden müssen oder so was. Über 20 Prozent Arbeitslosigkeit in der Gegend und dann mit 47 – da kann er nicht mehr verlangen. „Bei mir ist die Sache eh gelaufen“, sagt Helga Bahr. „Arbeitslos sein, damit werd ich fertig. Aber meinen Lohn für die Schufterei in den letzten Wochen, den will ich haben.“

Auch andere sorgen sich um ihr Geld. Am Freitag waren schon die ersten Gläubiger in Wernigerode. Sie wollten Maschinen mitnehmen. Mit Lastern versperrte die Belegschaft die Einfahrten. „Wir müssen den Betrieb arbeitsfähig halten“, sagt Betriebsrat Parzyk mit unbewegter Stimme.

Für heute ist eine Betriebsversammlung angesetzt. Da soll entschieden werden, ob die Geschäftsführung in Berlin wegen Konkursverschleppung angezeigt wird oder man ihre Worte ernst nimmt, daß nach einer Überlebenschance für Wernigerode und die anderen Ostbetriebe gesucht wird. Mehrere Schwesterunternehmen in Westdeutschland sollen schon pleite sein, heißt es. Genaues aber weiß niemand. „Ich erreiche den neuen Geschäftsführer nie“, sagt Parzyk.

In der menschenleeren Werkhalle mit dem holprigen Fußboden legt Leo Hossinger einen Hebel um. Ein Warnsignal ertönt. „Jetzt ist der Ofen aus“, erklärt er. Leise quietschend walzt das Förderband noch ein paar Meter weiter. Dann ist es still.

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