■ Höge in Boltenhagen
: An der Restitutionsküste

Helmut Höge, anarchistischer Journalist des Alltags und beliebter taz-Autor, durchstreift im Sommer unsere schöne Republik und sucht auf seiner Nord-Süd- West-Ost-Tour Dokumente deutscher Lebenskunst.

Hier, gleich hinter Lübeck, wo ich merkwürdigerweise nur Polen und Russen traf, beginnt der Osten: nur noch erkennbar an den Alleen und am „Mecklenburg-Vorpommern“-Schild.

Das Ostseebad Boltenhagen ist jedenfalls nicht wiederzuerkennen: schicke Hotels, italienische Restaurants (die „Zur Seebrücke“ heißen) und schnelle Polizisten in Westautos mit Siemenssirenen. Ein Boltenhagener, der Jura in Göttingen studiert, erzählt, nur noch der ehemalige Konsum-Flachbau sei aus der alten Zeit übriggeblieben. Nahezu der gesamte Ort gehörte früher irgendwelchen Lübecker Professoren und Intelligenzlern. Seit der Wende würden nun die meisten Hausbewohner um ihren DDR-Besitz bangen müssen.

Ansonsten gäbe es vor allem zwei große Gewinner am Ort: einen Boltenhagener, der früher immer nur im FDJ-Hemd rumgelaufen sei und nun seine letzte Chance ergriffen habe, sowie ein zugereister Süddeutscher, Sohn eines reichen Geschäftsmannes, für den der Badeort mit väterlichem Geld die erste Chance gewesen wäre. Beide seien zwar „nicht ganz verkehrt“, hätten jedoch Boltenhagen geradezu auf den Kopf gestellt.

Ersterer, indem er alles Ackerland, das er kriegen konnte, für 1 bis 2 Mark aufkaufte und daraus dann ganz schnell Bauland für 400 Mark machte. Die durchweg minderbemittelten Boltenhagener nähmen ihm dabei insbesondere Sätze wie „Das hättet ihr doch genauso machen können!“ übel.

Der einheimische Alt-FDJler profilierte sich dagegen feinfühliger um – zu einem erfolgreichen Immobilienmakler. Und nun ist bereits alles da: die guterzogene Jugend aus Hamburg, Bremen und Lübeck könne kommen! Und das tut sie auch – massenhaft. Betrinkt sich, lagert gerne nachts nackt am Strand, springt von der Seebrücke und promeniert von einem neuen Lokal zum anderen, wo es Mixgetränke nach Art des Hauses gibt.

Die wenigen von Einheimischen betriebenen Gastronomien erkennt man daran, daß sie ihre Existenzgründerdarlehen zu einem großen Teil in den Gästetoiletten verballert haben: Ein kleiner photoelektrischer Mechanismus setzt die Wasserspülung in Gang, sobald man mit aufgeknöpfter Hose seinen Penis dem Becken nähert. „Das ist eine ,neue Aussage‘ und die Gewißheit, daß es keine Ohnmacht gibt, außer durch Depression“, lese ich dazu am nächsten Morgen im zehn Kilometer entfernten „Treff-Hotel“. Der Autor ist Jean-François Lyotard, und er will mit den neumodischen Pißbecken, die ihm zum erstenmal auf der Toilette des Fachbereichs Informatik der Universität Aarhus begegneten, beweisen, daß es keine primitiven Gesellschaften gibt.

Ich will dagegen herausfinden, ob es am gesamten Küstenabschnitt zwischen Boltenhagen und Stralsund inzwischen ähnlich hightechmäßig auf den Toiletten zugeht und breche deshalb in Richtung Rügen auf. Der zähflüssige Verkehr auf Deutschlands beliebtester Alleenstraße zwingt mich jedoch, die Recherche auf zwei, drei Stichproben in weiteren Ostseebadeorten zu beschränken. Mit positivem Ergebnis in allen Fällen. Fazit: Die depressive DDR-Pißkultur ist an der Restitutionsküste (wenn man mal absieht von einigen WCs auf ärmlichen Dauercamper-Arealen, die bereits von Neonazis so gut wie umzingelt sind) vollständig ausgerottet!