Grüne Sonnen im Internet

■ Projektgruppe der HfK erforscht 50.000 Telekom-Kinderzeichnungen

Die Erdkugel bricht mitten entzwei, und heraus purzeln viele kleine Konsumgüter. Zwei Handys entflammen in Liebe zueinander, als seien's richtige kleine Menschen. Gespensterhafte Wesen in leeren, unwirtlichen Räumen können nur noch durch Picturephones miteinander kommunizieren. Seltsam geht es zu auf manchen Kinderzeichnungen.

„Die Telekom hat soviel Kreativität eingefordert. Jetzt trägt sie auch eine gewisse Verantwortung dafür“, meint Roland Kerstein, Dozent der Bremer Hochschule für Künste. Und sie trägt tapfer.

Berge von Kinderzeichnungen aus den Wettbewerben für die Telefonbuchumschläge wurden von der Wissenschaft unter soziologischen, psychologischen und kunstwissenschaftlichen Kriterien kartographiert. Warum Kinder was wie malen, scheint geklärt. Kerstein trieb eine andere Idee um: Die Vorstellung einer Forschungsarbeit, die nicht von wissenschaftlichem Impetus getragen ist, sondern von künstlerischen Erfahrungen. Wohin die Reise geht ist offen. Weniger um Erklären soll es gehen, sondern um Entdecken. „Vielleicht ist unsere Vorgehensweise vergleichbar mit den großen Expeditionen des 16./17. Jahrhunderts: sich aufmachen zur terra incognita. Dann wird sich schon zeigen, was einen erwartet.“Auch hierbei zeigte sich die Telekom kooperativ. Sie vertraute Kerstein und seinen drei studentischen MitarbeierInnen die 50.000 Zeichnungen des 1996-Wettbewerbs an und finanziert neun Monate Arbeitszeit für eine Internet-Archivierung (K i Z - Archiv), aber eben auch für eine künstlerische Verwertung des Materials. Vielleicht nicht ganz uneigennützig: Die universelle Verfügbarkeit des Netzes wird wohl das Archiv vor verstaubtem Schlummerdasein bewahren und den Namen der Telekom in die unendlichen Weiten des digitalen Kosmos hinausblasen.

Vorerst betätigen sich Kerstein & MitarbeiterInnen als Weltmeister im Einscannen: Ca. 100 Zeichnungen pro Stunde werden in die Sprache der Pixel übersetzt. Nackte Empirie statt vorschnelles Einordnen ist das Programm, das kein erkenntnisleitendes Interesse kennt. Solange, bis die Dinge selbst anfangen zu sprechen.

Und tatsächlich beginnen sie nach sechs Wochen Dauerscannen allmählich zu fipsen. Sie geben sich als Zwitterwesen zu erkennen, halb von unverformter Fantasie getrieben, halb vollgesogen mit gesellschaftlichen Prägungen. Die Bilder strotzen vor utopischen Visionen, anderererseits aber auch vor aufgeschnappten Wissensschnitzeln und Konsumreliquien. Grell droht ein Radioaktivitätssymbol, und fröhlich blinkt uns das Coca Cola Emblem entgehen. „Schon bei den Kindern generiert sich das Weltbild aus einer brisanten Mischung von eigener Erfahrung und Hörensagen.“Eben jenes Halberkennen, das dann in der Erwachsenenwelt so bestimmend – und vernichtend – wird. Vielleicht lassen sich seine Strukturen mit Hilfe der Kinderzeichnungen besser verstehen.

Geschlechterrollen zum Beispiel sind schon bei den Jüngsten ausgeprägt. Mädchen zeichnen Pferde und glückliche Familie, Jungs ein Fußballfeld. So einfach ist das noch immer. Auch die Utopien sind geschwängert von Trivialmythen. Entweder wünschen sich die Kinder zurück, back to the roots, zum Indianerlagerfeuer, oder vorwärts zu fantastischen S.F.-Welten auf fernen Planeten.

Roland Kerstein trägt Züge eines klassischen Internetfreaks, berauscht von Offenheit und Datenumsatz des Mediums. „Die größte primäre Quelle von Kinderzeichnungen“verspricht die Pressemitteilung, und Kerstein verwahrt sich gegen ein Filtern und Ordnen des Materials. Nur über Analogien will er den Benutzer durch den Zeichen-Berg leiten, von Auto zu Auto, Sonne zu Sonne usw.

Vielleicht aber wäre Wissenschaftlern ebenso wie interessierten Laien mit einer kleinen, kommentierten Auswahl mehr gedient. Denn zwischen Datengewinn und Erkenntnisgewinn existiert bekanntermaßen eine Kluft.

Letztendlich aber soll das Archiv ganz im Sinne Dubuffets verkarstete Strukturen erwachsener Kunstauffassung lockern. „Künstlerische Umsetzung, das ist die Wissenschaft, die wir betreiben“, meint Kerstein und denkt dabei zum Beispiel an die Transformation von graphischen Rhythmen (etwa von Wolken oder einem Vogelzug) in musikalische. Das K i Z - Projekt ist eines der wenigen Forschungsprojekte in freien künstlerischen Gefilden. Und darauf ist man stolz. bk