: Was hatte Wolf mit Bahros Buch vor?
■ Der Philosoph Guntolf Herzberg über den Verrat in Rudolf Bahros nächster Nähe
Rudolf Bahro arbeitete von 1971 bis 1977 unter konspirativen Bedingungen am Manuskript der „Alternative“. Trotz seiner Vorsicht wurde die Stasi darauf aufmerksam. Wieso?
Guntolf Herzberg: Seine Exfrau Gundula hat sich bei Markus Wolf gemeldet, hat ihm genau erzählt, was Bahro dachte und schrieb, und sie hat sich verpflichtet, der Staatssicherheit ein Exemplar des Manuskriptes auszuliefern. Seit 1974 war Bahro ständig unter Kontrolle des MfS. Man wußte von seinen Vertragsverhandlungen mit dem westdeutschen Verlag, wußte, wann ARD und ZDF zum Interview kommen. Seine Frau verriet auch diejenigen, die ihrer Meinung nach das Manuskript kannten: seine philosophischen Lehrer Heise und Besenbruch, Christa Wolf, Volker Braun, Günter de Bruyn.
Verrat aus Rache für eine gescheiterte Ehe?
Die Motive lassen sich vielleicht mit der gescheiterten Ehe erklären. Die Öffentlichkeit sollte sich da heraushalten.
Wenn Bahros Pläne so lange bekannt waren, welche Gründe gab es für das Stillhalten der Stasi bis zu seiner Verhaftung 1977?
In diesen Zeitraum fallen auch Bahros an der Technischen Hochschule Merseburg eingereichte Promotionsarbeiten. Wieder durch den Hinweis seiner Exfrau auf die anstößigen Stellen ist die Promotion durch bestellte Gutachten abgelehnt und verhindert worden. Die Stasi hat also nicht völlig stillgehalten. Warum sie die Veröffentlichung der „Alternative“ nicht verhinderte, ist eines der großen Rätsel, die wir hoffentlich noch zu Lebzeiten von Markus Wolf erklärt bekommen.
Welches Spiel trieb Wolf?
Darüber geben die Akten natürlich nichts her. Man könnte sich vorstellen, daß er bereits damals über den Zeithorizont sah und Bahros Entwurf als die stabilere Gesellschaftsform einschätzte. Es muß ein bestimmtes Interesse gegeben haben, Bahros Buch zu veröffentlichen. Welches, ist eben Spekulation.
Welchen Grund hatten Sie, sich mit den Stasi-Akten Rudolf Bahros zu beschäftigen?
Ich habe eine Weile hauptamtlich in der Forschungsabteilung der Gauck-Behörde gearbeitet. Dabei ging es insbesondere darum, die Verstrickungen von Philosophie und Philosophen mit der Staatssicherheit aufzuarbeiten. Und wenn man dann eine Weile mit den Akten beschäftigt ist und einem der Name Bahro wieder einfällt, ist es eine ziemliche Verführung, in diese Akten hineinzuschauen. Das habe ich gemacht und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Bekam aber dann Skrupel.
Warum?
Rudolf Bahro hat selber seine Akten noch nicht angeschaut. Für ihn ist das ein Leben, das so weit zurückliegt, daß ihn die Details nicht mehr interessieren. Ich habe Bahro dann die wichtigsten und für mich schockierendsten Dinge erzählt, und er hat mir sozusagen grünes Licht gegeben, das zu veröffentlichen, obwohl ihm diese Dinge nicht alle recht sein können.
Bahro erscheint gegenüber der Vergangenheit außerordentlich milde gestimmt. Warum gab er Ihnen „grünes Licht“?
Eben weil für ihn diese Dinge so weit zurückliegen wie für manche Leute die Kindheit. Es ist ihm dennoch nicht besonders angenehm. Vor allem hat er eine Scheu, Inoffizielle Mitarbeiter, die ich mit Namen nenne, bekannt werden zu lassen. Letztlich aber ist es keine Privatgeschichte.
Welchen Anteil haben Sie an dem Buch?
Er dankt mir sehr vorsichtig, weil er lange, durch die Stasi inspiriert, der Ansicht war, daß ich selbst dazugehört hätte. Es hat gedauert, bis er sich von diesem Wahn befreien konnte. Ich habe von Ende 1976 bis zu seiner Verhaftung mit ihm zusammengearbeitet, habe das Buch lektoriert, viele seiner Thesen mit ihm diskutiert. Ich habe vielleicht auch manche etwas übertrieben formulierte Erwartung aus der tschechoslowakischen Entwicklung mit ihm anders formulieren können.
Ansonsten ging es mehr um praktische Dinge wie die Vorbereitung auf die Haft, den weiteren Kontakt zur Öffentlichkeit. Oder wie kann er mit Literatur versorgt werden, wenn er aus der Haft herauskommt. Daneben war der rein menschliche Zusammenhalt mindestens genauso wichtig wie diese sachliche Zusammenarbeit.
Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Einer seiner Freunde zählte einst zu meinen Freunden. Unter großen Vorsichtsmaßnahmen bedeutete mir dieser Freund, wenn ich einen originellen Denker kennenlernen wollte, sollte ich mich mal mit jemandem aus dieser Gummibude treffen. Es begegnete mir ein sehr mißtrauischer Mensch – mußte er ja auch. Die andere Seite dieses Mißtrauens war die, daß diejenigen Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, die seine Pläne am detailliertesten verrieten, sein größtes Vertrauen besaßen. Der Funke zwischen uns sprang über, als ich fragte, woran er arbeitete. Er sagte, an einer Systemanalyse. Wir wußten beide, daß es nur ein System gab, das es sich zu analysieren lohnte, und mußten lachen.
Was hielten Sie von Bahro als Denker?
Unter den Marxisten ist er ein weißer Rabe. Obwohl er sich mit Marx und Lenin sehr gut auskannte, ließ er sich nicht blindlings fesseln. Auch viele andere Denker, Antonio Gramci beispielsweise, hat er aufgenommen. Und, was besonders wichtig ist, wenn man versucht, die tiefsten Wurzeln des menschlichen Verhaltens in eine philosophische Konzeption zu bringen, er kannte Sigmund Freud. Der war für die meisten Marxisten so etwas wie eine chinesische Mauer. Bahro hat sich bei diesen und anderen Denkern bedient. Aber das ist normal, wichtig ist, daß dann völlig neue Gedanken gedacht wurden.
Man könnte es in der „Alternative“ bis auf die Zeile beweisen, daß er sich durchaus als Vordenker Gorbatschows fühlen darf. Und wenn Sie noch ein wenig spekulieren wollen, dann ist das seinerzeit konfiszierte Exemplar der „Alternative“ über Stasi und KGB irgendwie auf Gorbatschows Schreibtisch gelandet.
Warum nur Bahro? Hatte die DDR nicht das Potential für weitere „Alternativen“?
Ich hatte immer gehofft, daß, wenn es eines Tages zu Veränderungen in der DDR kommen sollte, die Schubläden der Intellektuellen voller Ideen wären. Wir wissen heute, sie waren leer. Die praktische Tätigkeit von Opposition und Dissidenten war im Vergleich mit Polen oder der Tschechoslowakei lächerlich gering. Die meisten Leute haben in der DDR ihr geistiges Auskommen gefunden. Große Erwartungen gab es an die Schriftsteller. Mit der Wende verschwand aber der Großteil in der Bedeutungslosigkeit, weil es jetzt mit kleinen Anspielungen nicht mehr getan war. Das geistige Rüstzeug hätten andere auch gehabt. Daß Bahro das geschrieben, organisiert und durchgehalten hat, hängt mit seiner Persönlichkeitsstruktur zusammen. Interview: Martin Woldt
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