Nicht mehr erste Geige

Gesichter der Großstadt: Aus dem Exil im chinesischen Harbin kam der Geiger Hellmut Stern 1961 zurück nach Berlin. Heute engagiert er sich politisch  ■ Von Julia Naumann

Die Geige war sein Leben. Hellmut Sterns erste Geige stammte aus dem Nachlaß eines jüdischen Emigranten, sie begleitete ihn auf der Flucht 1938 in die Mandschurei. Seine zweite Geige entdeckte er bei einem Straßenhändler in Harbin; auf ihr spielte er bei chinesischen Hochzeiten und später im Israel Philharmonic Orchestra. Mit der dritten Geige, in Chicago erworben, bestand er das Probespiel bei den Berliner Philharmonikern.

Und heute? Hellmut Stern guckt seine Geige mit einem liebevollen Blick an und sagt dann etwas schuldbewußt: „Seit sechs Wochen habe ich nicht mehr gespielt.“ Denn seitdem der erste Geiger der Philharmoniker 1994 pensioniert worden ist, sind im Leben des jetzt 69jährigen nicht mehr nur Noten das Wichtigste, sondern auch ganz andere Dinge: Er arbeitet beim Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der Technischen Universität mit, engagiert sich in der SPD um Walter Momper und diskutiert mit rechten Jugendlichen. „Daß das so ein Ausmaß hat, wußte ich gar nicht“, sagt Stern bekümmert, „für solche Themen hatte ich in der Vergangenheit kaum Zeit.“

Vergangenheit war für Hellmut Stern lange Zeit gleichbedeutend mit Emigration. Nur einige Tage nach der Pogromnacht 1938 flüchtete der damals Zehnjährige mit seinen Eltern aus dem nationalsozialistischen Berlin. Seine Mutter hatte in Harbin im Norden Chinas, das damals von Japan kontrolliert wurde, durch Kontakte zum „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ einen fiktiven Vertrag als Pianistin bekommen. So landete die Familie nach einer langen Schiffsreise Ende Dezember zunächst in Shanghai.

Hellmut Sterns Eltern waren von der mit Menschen überfüllten Stadt entsetzt. Vom jüdischen Hilfskomitee wurde ihnen ein Zimmer zugewiesen, in dem außer Feldbetten nichts stand. Doch schon einen Tag später geschah ein Wunder: Der kleine Hellmut wurde von einem reichen Juden, der schon lange in Shanghai lebte, auserkoren, in seinem Haus zu leben. Dort sollte er zur Schule gehen, Musikunterricht bekommen, die Eltern sollten auch versorgt werden. Doch Hellmuts Vater, der „Herr im Hause“, blieb stur: „Er wollte unbedingt nach Harbin“, erinnert sich Stern, und so mußte Hellmut aus dem „wunderschönen Zimmer mit den herrlichen Spielsachen“ wieder ausziehen. In Harbin jedoch, wo Familie Stern insgesamt elf Jahre lebte, ging es den Emigranten oft schlecht. Hellmut Stern hatte mit der neuen Situation weniger Probleme: „Ich bin ein Anpasser“, charakterisiert er sich selbst. Er lernte Chinesisch, Russisch und Japanisch, feilte an seinem Geigenspiel, wurde immer professioneller.

1961 schließlich kehrt Stern zurück nach Berlin. In seiner neuen alten Heimat wird der Geiger, nunmehr Vater zweier Kinder, schnell zu einem der wichtigsten Orchestermitglieder und noch im selben Jahr erster Geiger. An Herbert von Karajan, der die Philharmoniker bis 1988 leitete, erinnert sich Stern freilich als „widersprüchlichen“ Menschen: „Er war ein naiver, machtbewußter, aber hilfsbereiter Mann mit großem Charisma.“ Politisch sei er jedoch ein „Kind“ gewesen. So nimmt Stern ihm übel, daß Karajan, der 1933 nicht nur einmal, sondern gleich zweimal der NSDAP beigetreten war, nie ein Wort des Bedauerns fand. „Weder über seinen Opportunismus noch über die Verfolgung vieler seiner Kollegen“, empört sich Stern. Im Gegenteil: Als er einmal in einem Interview gefragt wurde, was er in einem zweiten Leben anders machen würde, antwortete Karajan mit fester Stimme: „Nichts!“

Vielleicht ist auch das wieder ein Beispiel dafür, daß Hellmut Stern sich heute politisch und gesellschaftlich engagiert: „Die Welt brauchte mich als Geiger, als ich jung war. Jetzt brauchen mich die jungen Menschen.“