Bad Salzungen liegt überall

■ „Der Zweite“ – Landolf Scherzers Lokalreport über Menschen, Macht und Ohnmacht ist mehr als die Geschichte vom bösen Wessi und den guten Ostlern

„Wenn das Buch geglückt ist, müßte es die hiesige soziale Landschaft von Rostock bis Suhl spiegeln“, sagte Landolf Scherzer im Frühjahr. Gemessen am Medienecho ist seine Nahaufnahme einer mißglückten deutsch-deutschen Vereinigung bestsellerverdächtig.

Tatsächlich forderte Scherzers „Der Erste“ (1988) mit seinen Einblicken in SED-internes Lenken und Leiten regelrecht zur Fortsetzung heraus. Damals hatte es sechs Jahre gedauert und der Einschaltung des Politbüros bedurft, ehe der Schriftsteller und SED-Genosse Scherzer den Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung im westthüringischen Bad Salzungen vier Wochen bei seiner Arbeit beobachten durfte: Da waren Kettensägen für den Forst zu organisieren, neue Technologien für ein vorsintflutliches Glaswerk zu versprechen, eine landwirtschaftliche Genossenschaft mußte ermahnt werden, Gülle nicht im Straßengraben zu entsorgen. Der „Erste“ hantierte mit der Zauberformel „Plankorrektur“, die die alljährlich nicht erfüllten Pläne in erfüllte verwandelte, und er stellte ahnungsvoll fest: „Vielleicht haben wir als Partei auch selbst schuld, daß wir uns in so viele Dinge einmischen müssen.“

Nach Erscheinen des Buches (Gesamtauflage 100.000) verlangte der Suhler SED-Bezirksfürst Hans Albrecht, es wegen seiner „parteifeindlichen Äußerungen“ durch die Armee aufkaufen zu lassen. Dabei hatte der überzeugte Sozialist Scherzer nur einen Macher bewundert, angetreten, das vom zentralistischen Führungsprinzip ausgehende Chaos zu ordnen. Heute – neu aufgelegt als Aufbau-Taschenbuch – ist das ein lesenswertes Lehrstück über Donquichotterie.

In „Der Zweite“ tritt anfängliche Befangenheit bei der Annäherung an den CDU-Landrat von Bad Salzungen, Stefan Baldus, wie überhaupt an die „Marktwirtschaft plus Demokratie“ bald hinter genaue Beobachtung zurück. Scherzers Stärke als Reportageschriftsteller ist es, sich zurückzunehmen, staunen und zuhören zu können. Wertungen überläßt er dem Leser, ein Prinzip, mit dem er bereits 1983 in „Fänger und Gefangene“ über die Maloche der DDR-Hochseefischer Maßstäbe für die sozialistische Reportageliteratur setzte. Über seinen Anspruch sagt der Vorsitzende des kleinen Thüringer Schriftstellerverbandes: „Es ist kein Buch über die guten Ossis und den bösen Westlandrat. Ich versuche diesen Ost-West-Konflikt wegzunehmen, weil ich glaube, daß sein Aufbauschen ein Ablenken von den Problemen dieser Gesellschaft bewirkt.“ Dem wird „Der Zweite“ gerecht.

Gegen den Rat eines gewendeten Mitarbeiters aus der DDR- CDU willigt der „schwarze Baldus“ – wenn auch skeptisch – in eine Begleitung seiner Arbeit durch den „roten Scherzer“ ein. Aus der anfänglichen Distanz wird sehr langsam gegenseitige Akzeptanz. Immerhin erfüllen beide das klassische Feindbild: Ex-PDS-Genosse der eine, der andere CDU, Offizier an der Bundeswehr-Führungsakademie Hamburg, Westimport zur Umgestaltung des Panzerregiments in Bad Salzungen und 1992 zum Landrat gewählt.

Scherzer begleitet Baldus bei seinen Versuchen der Schadensbegrenzung in einstige Vorzeige- und nun abgewickelte Betriebe. Er erlebt den gegen den Landrat gebündelten Zorn eines ganzen Ortes, weil er Mr. Werner, dem Investor und guten Onkel aus Amerika, kein Land für eine Mineralwasserfabrik übereignet. Er beobachtet Baldus' Zurückhaltung beim Plattmachen des Kalikonkurrenten im thüringischen Merkers durch die Fusion mit der BASF-Tochter, der Kali- und Salz-AG aus Hessen. Die nüchterne Einschätzung des Kommunalpolitikers: „Es gibt keinen Verteilungskampf um Zuwächse mehr, es gibt einen Verteilungskampf um mehr oder weniger starke Einschränkungen.“

Baldus erklärt, er werde nicht protestieren. Sein Auftrag sei es, Politik umzusetzen. Dabei sieht er durchaus die gesellschaftsschädigende Abhängigkeit der Politik: „Das Kapital geht seine fremdbestimmten Wege und nicht die Wege, die wir gern hätten.“ Sein schwaches Gegenkonzept, ein Recyclingpark mit Müllverbrennungsanlage für 70 Beschäftigte, stößt auf erbitterten Widerstand der Bevölkerung. Scherzer schildert den Ratsalltag im „Tollhaus Wirklichkeit“ und beschreibt, mit welchen Tricks der wenig geliebte Landrat im Zuge der Gebietsreform seine Position zu sichern sucht, seine Stelle letztlich auftragsgemäß wegrationalisiert und die Entwicklungsgesellschaft Südwestthüringen gründet. Gleichzeitig recherchiert er Stimmungen der Bürger, notiert ihre neuen und zerstörten Hoffnungen. Er geht in das moderne Hartmetallwerk Immelborn, von der Treuhand für eine symbolische Mark und acht Millionen Anschubfinanzierung an ein Westpokerface verschachert. Das Ergebnis hat Methode: Konkurs. Er interviewt Mr. Werner, den Mineralwasserproduzenten in spe, und erfährt von dessen Geheimdienstauftrag, den Prototyp eines „sozialistischen Kapitalismus“ zu schaffen. Trotz offenkundiger Schizophrenie antwortet man Scherzer auf die Frage, ob alle im Ort an Mr. Werners Seltersfabrik glauben: „Woran sollten sie denn sonst glauben.“

Vier Jahre hat Landolf Scherzer an dem Report gearbeitet, ihn mehrfach „weggeschmissen“, wie er sagt, bis der sich zu einer außerordentlichen Bestandsaufnahme fügte. Sein „Bad Salzungen liegt überall in den neuen Bundesländern“, vermerkt der Klappentext zu Recht. Udo Scheer

Landolf Scherzer: „Der Zweite“. Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 270 Seiten, 29,90 DM

„Der Erste. Mit einem weiterführenden Bericht“. Aufbau-Taschenbuch, 224 Seiten, 14,90 DM