: Die Kleinen und die Traurigen
■ „Wenn der Kater kommt“: eine Anthologie von Martin Hielscher
Gespalten, zersplittert, zum Greifen nah oder zum Verschwinden fern – es hilft nichts, irgendwo muß es sein, ein zumindest Ich-ähnliches Etwas, das zum Erzähler taugt.
Setzt man voraus, daß der Wunsch nach Geschichten und die Kunst des Erzählens legitim und nicht allzu reaktionär sind, dann lassen sich, quasi als kleinster gemeinsamer Nenner, das Subjekt und der Horizont seiner eigenen Phantasie nicht vermeiden. Weshalb das Erzählen jahrelang unter akademischer Fuchtel stand. Grundregel für jedes bessere Hauptseminar: Vermeide alles, was dich in den Ruf bringen könnte, Du würdest noch an das Ich und seinen Buchdeckel glauben.
Im erklärten Gegensatz zu dieser intellektuellen Lektüre und Strenge versteht sich der „Vorschlag“, den Martin Hielschers mit der Anthologie Wenn der Katerkommt vorgelegt hat, als ein Beitrag zur Lebendigkeit und vielfältigen Möglichkeit eines „Neuen Erzählens“. Es sind 38 Geschichten 38 „jüngerer“deutschsprachiger Autoren, die –zum allergrößten Teil bislang unveröffentlicht – eine wiedergewonnene und unverhohlene Lust am Epischen dokumentieren: Geschichten, die nichts versprechen oder programmatisch einhalten, sondern mit denen man, wie Hielscher schreibt und wie er in der bevorstehenden Lesung im Literaturhaus wohl ausführen wird, vor allem „eine Erfahrung macht“. Urlaubserlebnisse, verstörte Nachmittage in einer Peepshow, erstaunlich viele Autofahrten, eine „Bootsfahrt“von Hansjörg Schertenleib, das müde Ausgehen befreundeter Ehepaare. Erfahrung braucht Realität, und Erfahrungen, so das optimistische, erzählerische Credo, sind darstellbar und kom-munizierbar. In den besten Fällen dieser manchmal ein bißchen altklugen Sammlung passiert das unangestrengt, uneitel und ganz so, als ob der Text mitten im engen Wort- und Zeilenlauf plötzlich noch einen extra Freiraum habe. Wie etwa bei Karen Duve, die mit ihrer „Miami Dream Men Show“nicht nur von einem Betriebsausflug, sondern auch von einer fast tödlichen Traurigkeit erzählt. Oder Matthias Altenburg, der mit der Amorbahn die anrührend ruhige Porträtskizze einer jungen, dicken und für den Rest ihres Lebens sehr einsamen Frau beiträgt.
Die schönsten Geschichten sind noch immer die kleinen und stillen, jene, die von sich weg- und selbstvergessen auf etwas Anderes, Fremdes und Flüchtiges hinzeigen. Derart selbstverständlich kommen sie daher, daß ihnen die eigene Virtuosität und Meisterschaft vollkommen gleichgültig zu sein scheint.
Katja Lange-Müllers Ente in der Flasche, eine Zen-Geschichte, die gleichzeitig eine letzte Begegnung mit Heiner Müller ist, wäre da ein gutes Beispiel. Und nicht zu vergessen Stefan Beuse und sein wunderbares Geheimnis von Ritter Sport Joghurt. „Ich sag' dir, erst in dem Rest, den niemand haben will, liegt das Geheimnis. Es gibt keine Erwartung mehr, also auch keine Enttäuschung. Es ist einfach genau das richtige Verhältnis zwischen Joghurt und Schokolade. Das ist die wahre Überraschung.“
Elisabeth Wagner
Morgen, 3. September, Martin Hielscher und Horst Ohde, „Wenn der Kater kommt“, Lesung ausgewählter Texte, 20 Uhr, Literaturhaus
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