Bunte Zigarrenkiste

■ Kubanische Musik ist wieder voll am Start. Da sollte man Guaguanco nicht für ein püriertes Avocado-Gericht halten

1997 ist ohne Zweifel ein besonderes Jahr für die kubanische Musik: Durch Europa touren so viele kubanische Bands wie nie zuvor. Mit den zehnten Berliner Heimatklänge-Musikwochen, die kürzlich zu Ende gingen, stand gleich eine ganze Konzertreihe im Zeichen der Karibikinsel. Und in der Flut der aktuellen Veröffentlichungen fällt es schwer, Übersicht zu bewahren. Eine Orientierungshilfe könnte die umfassende Kuba- kompilation mit dem merkwürdigen Titel „I am Time“ bieten.

Auf den ersten Blick schaut die Schachtel wie eine bunte Zigarrenkiste aus. Öffnet man sie, purzeln einem vier CDs mit kubanischer Musik entgegen. Fehlt nur noch die Rumflasche, und einmal mehr wäre bestätigt: Was Kuba angeht, dem gelobten Land des Feuilletons, liegen die Klischees seit jeher nahe beieinander.

Dabei ist die vierteilige CD- Sammlung beileibe kein oberflächlich zusammengestoppeltes Salsa- Sammelsurium, mit dem schnell modische Zeitgeistgelüste bedient werden sollen. Im Gegenteil: „I am Time“ bietet eine fast lehrbuchhafte, in der Detailverliebtheit etwas ermüdende Einführung in die kubanische Musikwelt. Über einen Zeitraum von siebzig Jahren, von 1927 bis 1997, reichen die Aufnahmen, die auf den vier Silberscheiben enthalten sind und denen auch ein akribisch recherchiertes und üppig illustriertes Begleitbuch beiliegt – der durchschnittliche Son- Fan ist schließlich Bildungsbürger. Allein das Booklet eignet sich mit seinen 112 Seiten längst nicht mehr zur Nebenbeilektüre, die Gesamtspielzeit der Silberlinge beträgt über fünf Stunden: Das will durchgearbeitet werden, dafür bracht man mindestens ein konzentriertes Wochenende. Das Nachsitzen ist allerdings angesagt, will man in Zukunft kompetent mitreden. Denn kubanische Musik ist wieder voll am Start. Da darf es einem nicht passieren, Guaguancó für ein püriertes Avocado-Gericht zu halten.

Würdevolle Schönheit

Also aufgepaßt: Der erste CD- Band führt zu den afrikanischen Wurzeln kubanischer Musik, beginnt mit polyrhythmisch klöppelnden Bat-Trommeln, über die sich ein melodisch erzählender Gesang legt: die Ausgangsbasis. Rumba in seiner ursprünglichen Form war, als rituelle Musik der synkretistischen Santeria-Religion der zwangskonvertierten Sklaven, Mittel zur Geheimkommunikation mit den afrokubanischen Gottheiten. Noch heute finden sich Lieder zu Ehren der Yoruba-Götter im Repertoire populärer Salsa-Kapellen wie LosVanVan – auch das lernt der aufmerksame Kuba-Box- Besitzer.

Der europäisch beeinflußten Trova-Tradition, dem kubanischen Lied, widmet sich der zweite Teil des Viererpacks. Da darf ein kratziges „Guantanamera“ natürlich nicht fehlen, eines jener unsterblichen Standards, die, inzwischen schon in HipHop-Remixe gegossen, das musikalische Kuba- Klischee bestimmen. Ironie der Geschichte, daß der Evergreen seinem Schöpfer Joseito Fernández nie auch nur einen mickrigen Dollar Tantiemen einbrachte. Erwähnung findet aber auch die neuere Schule der kubanischen Liedermacher des Nueva Trova. Beny Mor, der von vielen als größter Son-Sänger aller Zeiten verehrt wird, eröffnet die dritte Scheibe, die gleich mehrere der berühmtesten musikalischen Exportgüter Kubas abdeckt: Rumba, Mambo, Cha-Cha- Cha. Den Abschluß des Reigens bildet „Cubano Jazz“, das einen Querschnitt wagt durch die unzähligen Fusionen zwischen Jazz und kubanischer Musik. Ein Liebesverhältnis mit Hindernissen, denn des amerikanischen Handelsembargos wegen war über die letzten Jahrzehnte hinweg das musikalische Hin und Her zwischen den USA und Kuba praktisch zum Erliegen gekommen.

Havanna Revisited: Der Amerikaner Ry Cooder und Nick Gold, Chef des Londoner Edel-Labels World Circuit, begaben sich im März letzten Jahres auf dreiwöchigen Kuba-Trip, dessen Ausbeute derzeit ungeahnte Verkaufsrekorde erzielt. Ry Cooders „Buena Vista Social Club“ probt die atmosphärische Rekonstruktion jener Tage des florierenden amerikanisch-kubanischen Austauschs, als sich in den Bergen östlich von Havanna alte Notabeln und neureiche Glücksritter im Gesellschaftsclub gleichen Namens trafen und jene Musiker, die sich heute in bescheidenen Verhältnissen über Wasser halten, ihre große Zeit hatten. Was die Versammlung alter Männer, die Cooder und Gold um sich scharten, dabei wie beiläufig aus den gebügelten Hemdsärmeln schüttelte, das ist von einer würdevollen Schönheit, die einem die Tränen in die Augen treibt. Der mehrstimmige Gesang, von Ibrahim Ferrers sonorer Stimme angeführt, und die Einsätze der Trompete Manuel „Guajiro“ Mirabals harmonieren blind mit dem gefühlvollen Gitarrendialogen Cooders und Eliades Ochoa sowie Company Segundo, dem „zweiten Begleiter“ Francisco Repilado. Unser Mann in Havanna, Ry Cooder, der seinen Sohn Joachim zwecks Percussion-Nachhilfe gleich mitbrachte, hält sich als respektvoller Zaungast am Rande und läßt die Son-Senioren, mehrheitlich über siebzig Jahre alt, ihr im Lichte langer Lebenserfahrung milde leuchtendes Repertoire ausfahren.

Fast ganz ohne Cooder, der nur auf einem einzigen Stück seine Slidegitarre einwirft, ließen die Musiker in der Woche zuvor mit den Afro-Cuban All-Stars unter Leitung von Juan de Marcos González den Sound der afrokubanischen Orchestras der fünfziger Jahre wiederaufleben. „A Todo Cuba le Gusta“ macht die Bigband-Rhythmen der fünfziger Jahre wieder flott und erweist gleichzeitig Referenz an die Soneros, die legendären Son-Sänger der „Goldenen Jahre“, von denen immerhin sechs Legenden auf dem Album ein Gastspiel geben. Quasi ein Comeback feierte der 77jährige Rubén Gonzáles, einer der Begründer des modernen kubanischen Pianos, der, an Arthritis leidend, schon vor Jahren in den Ruhestand getreten, gar kein Klavier mehr besaß. Im Anschluß an die regulär geplanten Aufnahmen nutzte er die Gelegenheit, auf dem Klavier im Studio in nur zwei Tagen sein virtuos dahinfließendes Solodebüt einzuspielen. Melancholie liegt in dicken Schichten auf der Trilogie, die auch als Nachruf zu lesen ist auf eine Ära, in der Kubas Musikszene eine Insel der Seeligen abseits von kapitalistischer Verwertungslogik zu sein schien.

Die Zeiten dürften allerdings schon vorbei sein „in 1997“: Den Entdeckern folgen stets die Eroberer, wenn sie nicht schon im gleichen Boot sitzen. 1994 erhielten Kubas Musiker die Erlaubnis, mit ausländischen Plattenfirmen Verträge zu schließen, so daß sich viele Musiker im wesentlichen durch Plattenaufnahmen und Tourneen im Ausland finanzieren. Ob das der Musik eher nützt oder schadet, bleibt einmal dahingestellt. Sicher ist: Der Ausverkauf hat bereits begonnen. Daniel Bax

I am Time: 4 CD-Box (Exil)

Ry Cooder: Buena Vista Social Club

Rubén Gonzáles: Introducing ...

Afro-Cuban All-Stars:

A Toda Cuba le Gusta (alle World Circuit)