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"Leicht verführbar"

■ Warum wurde dem Sexualwissenschaftler Helmut Kentler der Magnus-Hirschfeld-Preis wieder entzogen? Ein Gespräch mit dem Jurymitglied Ida Schillen von Bündnis 90/Die Grünen

Im Frühjahr sollte der Hannoveraner Sexualwissenschaftler Helmut Kentler den Magnus- Hirschfeld-Preis verliehen bekommen, der von einer parteiübergreifenden Berliner Initiative vergeben wurde. Kurz vor der Verleihung kam es dann zur Zurücknahme des Preises durch die Jury, nachdem unter anderem in „Emma“ ein Artikel über Kentlers Pädophilenfreundlichkeit erschienen war. Die taz druckte am 9.8. eine Darstellung des Hergangs aus Kentlers Sicht, worin er auf seine pädagogischen und sexualwissenschaftlichen Positionen einging. Ida Schillen (Bündnis 90/Die Grünen) war Mitglied der Jury.

taz: Frau Schillen, Sie gehörten der Jury an, die den Magnus- Hirschfeld-Preis in der Kategorie Mann zunächst Helmut Kentler zugesprochen hatte. Wie kam es zu der Rücknahme des Preises?

Ida Schillen: Herr Kentler wurde von der Gruppe „Homosexuelle und Kirche“ vorgeschlagen. In einem kurzen Papier war sein Wirken für die Homosexuellen in der Kirche beschrieben. Wir haben, das muß ich selbstkritisch für die gesamte Jury sagen, uns zuwenig mit der Persönlichkeit befaßt. Kurz vor der Preisverleihung kamen Hinweise aus einer Schwulenberatungsstelle, daß Kentler wegen seiner umstrittenen Positionen zur Pädophilie eine recht problematische Person für den Preis sei.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben kurzfristig noch einmal getagt und festgestellt, daß wir angesichts der Kontroverse um seine Person den Preis nicht vergeben können. Der Wissensstand in der Jury war allerdings sehr unterschiedlich. Einige kannten nur den Emma-Artikel. Wir haben entschieden, den Preis zunächst auszusetzen und uns mit Kentlers Positionen intensiver auf einer weiteren Sitzung zu befassen. Das haben wir im Juni getan und die Ablehnung Kentlers bestätigt.

Worauf er das Problem selbst in der taz ausführte. Was kritisieren Sie an Kentlers Darstellung?

Er hat zunächst die Gründe der Jury verzerrt wiedergegeben, da er offensichtlich von dem Jury-Vorsitzenden Stephan Grunberg falsch informiert wurde. Er behauptet, die Feministinnen in der Jury hätten ihn verhindert, weil er auch über Mütter schreibe, die ihre Kinder mißbrauchen. Das ist natürlich Quatsch. Auf diese Art und Weise wurde in der Jury nicht geredet. Auch in der feministischen Forschung wird seit Jahren über Frauen als Täterinnen gearbeitet. Die Gewalt von Frauen gegenüber Kindern wird von Feministinnen nicht anders bewertet als die von Männern. Die Jury lehnte Kentler wegen seiner pädophilenfreundlichen Thesen ab. Die Entscheidung wurde nicht nur von den Frauen der Jury, sondern auch von den Männern getragen.

Weshalb haben Sie sich von Kentlers Positionen distanziert? Seine Aussage, daß das Sexualobjekt des Kindes immer nur das Kind sein kann, nie aber der Erwachsene, ist doch sehr eindeutig.

Kentler ist in seinen Aussagen sehr widersprüchlich. Er beurteilt sexuelle Kontakte, die von Männern ausgehen, für die betroffenen Jungen als sehr positiv. Er verwischt selbst häufig die Grenzen zwischen Päderastie und Pädophilie. Die Hilfsbedürftigkeit, Unsicherheit und Weiblichkeit von Jungen wird von Kentler als sehr attraktiv für den erwachsenen Mann dargestellt. Er führt Versuche mit Jugendlichen aus zerrütteten Familien an, die er zur Therapie in die Obhut von erwachsenen Männern brachte, die selbst einschlägig wegen Pädophilie vorbestraft waren. Er produziert das Bild eines Unterschichtenzöglings, für den das pädophile oder päderastische Verhältnis zu einem erwachsenen Mann die einzige Chance sei, der prekären Situation zu entkommen und darüber den Weg ins geordnete heterosexuelle Familienleben anzutreten. Kein Wort über eigenständige Kinderrechte. Wer als Kind weder über die eigenen Rechte, geschweige denn öffentliche Hilfsangebote informiert ist, wer als Kind weder über Geld noch sonstige Annehmlichkeiten verfügt, wer als Kind kaum freundliche Außenkontakte hat und aus gewalttätigen familiären Verhältnissen kommt, ist eben leicht verführbar durch die „gewaltlose Liebe“ eines erwachsenen Mannes. Kentler thematisiert an keiner Stelle das offenkundige Problem, daß die soziale Situation von Kindern und Jugendlichen ausgenutzt wird, um sexuelle Verhältnisse zu erwachsenen Männern zu ermöglichen. Helmut Kentlers Positionen sind anti-emanzipatorisch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Deshalb halte ich ihn für nicht preiswürdig.

Stellen Sie damit auch die wissenschaftliche Grundlage von Kentlers Gutachten in Frage?

Ich kritisiere die Auffassung Kentlers, daß es eines erwachsenen Mäzenatentums bedarf, um ein Kind aus dem familiären Elend zu befreien. Kentler hat den Paradigmenwechsel, wie er Ende der achtziger Jahre auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz formuliert wurde, nicht mitvollzogen. Die Eigenständigkeit des Kindes gehört in den Mittelpunkt. Kinder sollen in die Lage versetzt werden, unabhängig und unter einer Vielfalt von Hilfsangeboten selbst zu entscheiden. Kentler verfolgt mit seinen pädagogischen Ansätzen immer noch die Strategie, derzufolge der Junge einen Mann braucht, an dem er sich orientieren kann. Das verstärkt das Abhängigkeitsverhältnis von Kindern zu Erwachsenen. Ich spreche Kentler seine Wissenschaftlichkeit nicht ab, halte diesen Ansatz aber für überholt. Es fördert nicht die Emanzipation von Kindern und Jugendlichen.

Hat der Magnus-Hirschfeld- Preis nach solch einer Auseinandersetzung noch eine Zukunft?

Aus heutiger Sicht halte ich den Preis für problematisch. Ich habe mich darauf eingelassen, in der Jury mitzuwirken, weil die Schwusos vorgaben, sie wollen eine parteiübergreifende Initiative starten. Die Jury war mit Personen aus verschiedenen Initiativen und Verbänden besetzt. Es war eine gute Idee, um das emanzipatorische Wirken für Lesben und Schwule zu befördern. Leider hat sich herausgestellt, daß sowohl der Preis als auch Magnus Hirschfeld parteipolitisch von der SPD vereinnahmt wurden. Das hat die Preisverleihung an dem Abend gezeigt, die eine reine Parteiveranstaltung war. Es ist schwer vorstellbar, daß sich beim zweitenmal noch jemand für diesen Preis der Peinlichkeiten zur Verfügung stellt. Auch Magnus Hirschfeld sollte dies erspart werden. Interview: Harry Nutt

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