Acht Billionen Mark und 10 Millionen Arme

Ein Blick in die Sozialstatistiken zeigt: Im reichen Industrieland Deutschland sind immer mehr Menschen von Armut bedroht. In vielen Großstädten lebt heute schon jedes fünfte Kind in der ersten Klasse von der Sozialhilfe  ■ Von Hermannus Pfeiffer

Hamburg (taz) – Sozialminister Norbert Blüm ist nicht zuständig. Sein Sprecher verweist mich auf das Bundesministerium für Gesundheit. Selbiges ist zwar zuständig, aber der Zuständigkeitsbereich fehlt. Gefragt war nach Armut – Armut in Deutschland. Und solche gibt es eigentlich nicht, sagt das Gesundheitsministerium.

Die gängigen Definitionen sind untauglich, meint Hartmut Schlegel, Sprecher von gesundheitsminister Horst Seehofer. Sozialhilfe verhindere Armut. Die Bonner Opposition spricht einstweilen von sieben Millionen Armen in der Bundesrepublik – auch das ist Optimismus pur.

Sozialhilfe sichert nicht nur das Überleben, sondern in bescheidenem Umfang auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, behaupten die regierenden Gesundheitsschützer. Über zwei Millionen Menschen bekommen nach den amtlichen Statistiken laufende Hilfe zum Lebensunterhalt von ihrer Kommune, also Sozialhilfe; daneben beziehen mehr als eineinhalb Millionen Haushalte Wohngeld.

Nur wer nicht zum Sozialamt geht, bleibt arm

Summa summarum sind dies fünf Millionen. Aber, da ist sich Ministersprecher Schlegel sicher, lediglich Menschen, die ihren Anspruch aus Scham nicht nutzten, seien tatsächlich arm. Solche Schamhaften seien selten, Alte zumeist und Obdachlose.

Ein Gegenkonzept zu dieser Art Voluntarismus entwarfen in den siebziger Jahren einige Sozialwissenschaftler. Relative Armut messe sich am Einkommensschnitt im Lande, argumentierten sie. Wer über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügt, ist arm, lautet die Faustformel. Später übernahm die Europäische Kommission diese 50 Prozent-Formel mit der Begründung, daß verarmte Personen über so geringe Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat als Minimum annehmbar ist.

Nach diesem Maßstab sollte, berechnete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), jeder über wenigstens 941 Mark und 50 Pfennige verfügen, um nicht in die Armen-Statistik zu rutschen.

Oder: Wer weniger als 940 Mark hat, ist arm

Das gelingt immer weniger Bürgern: 10 Millionen Menschen in Deutschland sind nach dieser Definition derzeit arm!

Anders als in früheren Zeiten bedeutet einmal arm aber nicht mehr immer arm, erklärt der Hamburger Sozialforscher Ulrich Podszuweit. Die Armen, wie immer definiert, sind keine festgefügte Randgruppe. Häufig ist das Sozialamt nur eine Übergangsstation bis zum Beginn der Rentenzahlung oder des Arbeitslosengeldes. Menschen werden aber auch arm durch Scheidung, die Geburt eines Kindes oder eine zu kleine Pension.

Armut beginnt oft durch Arbeitslosigkeit und manchmal durch das Ende der Ausbildung, durch Krankheit oder Zuwanderung. Oft bleibt solche Armut nur eine Episode im Leben. Diese zeitliche Armutsdynamik bedeutet aber auch, daß ein Großteil der Bevölkerung im Laufe des Lebens wenigstens zeitweilig arm ist.

Neben diesem Armutsgros aus Opfern der äußeren Umstände und ihrer Lebensläufe, existiert eine, den Zeitständen trotzende, selbstgewählte Armut. Etwa die Studentin, welche eine finanzielle Enge bewußt als Preis ihrer Bildungsjahre in Kauf nimmt oder der Vater, der den Geld-Verzicht allemal aufgewogen findet in den häuslichen Jahren mit seinem Kleinkind. Finanziell werden wir schon irgendwie über die Runden kommen, lautet die Lebenslosung solch aktiv Armer.

Die junge Bundesrepublik hatte die alte Armenfürsorge aus dem Jahre 1924 übernommen und damit ein Sozialrecht für Ausnahmefälle. Gedacht war an Alte, insbesondere an die Kriegswitwen. Mit dem endgültigen Ende des Wirtschaftswunders in den siebziger Jahren war es damit vorbei: Die wirtschaftliche Krise hinterließ Massenarbeitslosigkeit und die Grenzen der Sozialsysteme die Neue Armut: Heute erhalten eine Million Arbeitslose weder Job noch Geld vom Arbeitsamt!

Die neue Armut kam mit der Arbeitslosigkeit

Und die anderen beziehen wahrlich überschaubare Summen: Durchschnittlich kassiert ein Empfänger von Arbeitslosengeld 1 351 Mark und 38 Pfennige. Nach Ablauf des Anspruchs zahlt die Bundesanstalt für Arbeit im Schnitt nur noch 960 Mark Arbeitslosenhilfe.

Der neuen Armut der Arbeitslosen folgte die Jugendarmut. Arm sind in den neunziger Jahren insbesondere Familien, und so sind 40 Prozent der Sozialhilfeempfänger Kinder und Jugendliche: 870.000 Minderjährige verzeichnet die aktuellste (sic!) Sozialhilfe-Aufstellung des Statistischen Bundesamtes für Ende 1994.

In Großstädten lebt jedes fünfte Kind in der 1. Schulklasse von Sozialhilfe! An die Seite der Jugendarmut traten alleinerziehende Frauen und Ausländer. Der Zuzug Deutschstämmiger aus dem Osten, Asylbewerber und die Familienzusammenführung der ehedem hergeworbenen Gastarbeiter ließen den Ausländeranteil in der Sozialhilfe auf ein Drittel ansteigen.

Die neue Armut erreicht Junge und Ausländer

Die Unternehmensberatung Kienbaum GmbH wollte einiges genauer wissen. Auftraggeber waren Sozialbehörden aus 13 Großstädten. Es zeigte sich ein steiles Nord- Süd-Gefälle: Unter 1.000 Bremern leben 90 Hilfeempfänger. Deutlich freundlicher schneiden Stuttgart (46) und München (36) ab. Der ökonomisch darbende Osten kennt überraschend wenige Sozialfälle, Rostock mit 27 sogar bundesweit die wenigsten. Wohl ein vorübergehender Erfolg anderer Sozialmaßnahmen.

Niemand muß betteln, wirbt die U-Bahn. Niemand muß betteln, antwortet ein Strichmännchen in den U-Bahnen Hamburgs auf die Frage „Hast Du mal ne Mark?“ Das rote Anti-Bettler-Plakat ist eine Gemeinschaftsaktion von Hochbahn AG und Sozialbehörde.

Jeder Bedürftige hat einen Anspruch auf Sozialhilfe, heißt es weiter – es folgen Tips und Adressen.

In der reichsten Stadt Europas leben etwa 18 Prozent Arme, ermittelte Soziologe Podszuweit. Nach der wirtschaftlichen Krise, dem Wandel der Familie und der Immigration entstand mittlerweile ein vierter Armutsgrund.

18 Prozent aller Hamburger sind arm

Es gibt tarifliche Bruttolöhne und -gehälter deutlich unter 2.500 Mark im Monat, sagt Claus Schäfer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB. Der Schlossergeselle in Bayern kriegt magere 2.907 Mark am Monatsende ausgezahlt und die Fischverpackerin in Cuxhaven karge 2.011 DM. Mit solchen Armutslöhnen leben mehr als 10 Prozent der Vollzeitbeschäftigten! Dazu kommen immer mehr atypisch Beschäftigte: Teilzeitkräfte, Heimarbeiter oder Teleworker.

Aber diesmal sind Unternehmer und Gewerkschafter einer Meinung: Auch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IDW) beklagt die vielen Einkommen auf Sozialhilfe-Niveau. Nur Armut (germanisch arma: unglücklich) nennt sie das nicht. Schon 1994 hatte der damalige Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann daraus geschlossen, daß eine Absenkung der Sozialeinkommen nötig sei.

Für manche Bezieher von Sozialhilfe lohnt es kaum, einer Beschäftigung nachzugehen, urteilte jetzt auch das DIW. Und mit einem etwas andern Zungenschlag fand das Armutsthema nun auch Eingang in die laufende Steuerdiskussion: Die Koalition plant ab 1999 einen Eingangssteuersatz von lediglich 15 Prozent. Begründet wird dies mit dem steigenden Arbeitsanreiz für niedrige Einkommen.

Gewinne steigen, die Zahl der Armen auch

Sind die Armen vielleicht nicht arm genug? Oder doch die Reichen zu reich? Der Anteil von Löhnen und Gehältern am wachsenden Volkswohlstand sinkt. Die Nettoeinkommen aus abhängiger Beschäftigung sind seit 1980 nahezu gleich geblieben! Derweil stieg der Gewinnanteil: Jüngst lag der Anteil des Volkseinkommens aus Unternehmertätigkeit und Vermögen bei 30 Prozent!

Auch ein Verdienst der Wirtschaftspolitik, die sich erfolgreich um eine Verbesserung der Angebotsbedingungen in der westdeutschen Volkswirtschaft bemühte, bemerkt dazu die Deutsche Bundesbank und hat den Blick fest auf die Kohlsche Wende gerichtet.

Die AWO zählt 130 Schnitte im Sozialsystem

Parallel zum Reichtumsschub in den Achtzigern explodierte jedoch auch die Armut in Deutschland. Mehr als 130 Einschnitte in die Sozialsysteme zählte die Arbeiterwohlfahrt. Und bedrohlich nah an die Armen auf Sozialämtern, Arbeitsämtern und in Niedriglohngruppen tritt nun auch noch ein gewichtiger Teil der Mittelschicht.

Millionen Familien rutschen langsam aber sicher in bedrohliche Armutsnähe. So sank seit 1980 das verfügbare Einkommen von Beamtenhaushalten und Angestellten bis zu 10 Prozent, ergibt sich aus den Aufstellungen des Statistischen Bundesamtes. Obendrein gelten zwei Millionen Haushalte als überschuldet – sie können schlicht ihre Schulden nicht mehr tilgen.

Deutschland ist reich und es wird immer reicher. Nach Abzug der Verpflichtungen verbleibt für die westdeutschen Privathaushalte ein Reinvermögen von acht Billionen Mark. Hinzu kommt etwa eine halbe Billion in Ostdeutschland. Der Schatz besteht zur Hälfte aus Geldvermögen, schätzt die Bundesbank. Reich ist aber nur eine Minderheit: Lediglich zehn Prozent der Bundesbürger besitzt das halbe Deutschland!

170.000 für Eintracht und 170.000 für Arme

Aber nicht nur Reiche spendeten in der Weihnachtszeit über 170.000 Mark für die Frankfurter Eintracht. Mit dem Spendenerlös könnte der hochverschuldete Fußballverein immerhin ein knappes Drittel des Gehalts seines Stars Maurizio Gaudino bezahlen. Etwa die gleiche Summe von 170.000 Mark spendeten Frankfurter Bürger noch einmal an Heiligabend – Empfänger war diesmal Brot für die Welt. Armes Deutschland.