piwik no script img

Eine schrecklich nette Familie

Die Radkes kommen mit ihren sieben Kindern besser klar als manche Kleinfamilie: „Kinder sind keine Sache von Geld, sondern eine Herzenssache“  ■ Von Barbara Bollwahn

Jürgen schaut belustigt zu, wie ein Hamster mit allen vieren oben an den Gitterstäben hängt. Nicole und Jasmin spielen mit den frisch geborenen Jungtieren, während Martin sein elektronisches Haustier, das Tamagotchi, füttert. „Mutti, du mußt mir noch bei den Geschichtsaufgaben helfen!“ drängelt Sandra. Markus ist müde und quengelt mit dem Schnuller im Mund leise vor sich hin. „Essen wir jetzt?“ ruft Paul und schmiegt sich an seine Mutter, die den Tisch deckt.

Sandra, Jasmin, Nicole, Martin, Paul, Jürgen und Markus sind Geschwister. Ihre Geburtsjahre sind 1982, 1983, 1986, 1988, 1990, 1991 und 1994. Weil nicht alle an den Tisch passen, essen sie in Schichten. Ihre Mutter, Petra Radke, kommt kaum selber dazu, einen Bissen zu essen. Doch die 31jährige ist die Ruhe in Person. Auch ihr Mann Paul (61) verliert nicht die Nerven, als der Jüngste, der dreijährige Markus, den Nachtisch auf seinem Pullover plazieren will.

Familie Radke gehört zur aussterbenden Spezies der Großfamilie, ohne sich selbst als Exoten zu fühlen. Es war der Wunsch der Eltern, so viele Kinder zu haben. Daß sie nach Markus einen Geburtenschlußstrich gezogen haben, hat rein praktische Gründe: „Wenn wir uns ein Haus leisten könnten“, sagt Paul Radke, „hätten wir noch mehr.“ So teilt sich die neunköpfige Familie die 114 Quadratmeter große Wohnung in Schöneberg mit der pflegebedürftigen Mutter von Paul Radke, elf Hamstern und einem großen Aquarium.

Daß es bei ihnen nicht chaotischer zugeht als in einer Kleinfamilie, liegt daran, daß Petra Radke eine Weltmeisterin im Organisieren ist. Genausowenig wie die Kinder Zufallsprodukte waren, überläßt sie auch im Alltag nichts dem Zufall. Morgens um sechs steht sie als erste auf, um halb sieben weckt sie die Kinder. Während sie das Frühstück vorbereitet, verschwinden die Mädchen und Jungen, eins nach dem andern, im Bad. Spätestens um halb acht sind alle Kinder aus dem Haus. Eines der älteren Mädchen liefert Markus im Kindergarten ab. Zeit für eine Kaffeepause bleibt Petra Radke nicht. Sie macht die drei Doppelstockbetten der Kinder und das Ehebett, das der Kleinste mit ihnen teilt, wirft den ersten der mindestens drei täglichen Waschmaschinengänge an und räumt die Wohnung auf. Bis die ersten aus der Schule zurückkommen, bleiben ihr maximal dreißig Minuten zum Verschnaufen. Dann heißt es schon wieder Mittagessen machen.

Fester Bestandteil jedes Nachmittags ist der tägliche Einkauf bei Aldi oder Lidl, deren Angebote Petra Radke vormittags studiert. Um den täglichen Nahrungsbedarf nach Hause zu schleppen, nimmt sie zwei Kinder mit. Wenn gegen halb vier alle eingetrudelt sind – Jasmin holt den Kleinsten aus dem Kindergarten ab –, machen sie Hausaufgaben und spielen. „Dann heißt es wieder aufräumen“, sagt Petra Radke und lacht.

„Ich bin stolz auf meine Kinder“, sagt sie. „Auch wenn sie Streß und Arbeit machen, gehe ich darin auf.“ Auf einer Urkunde im Wohnzimmer wird Petra Radke von ihren Kindern „zur liebsten Mama aller Zeiten“ ernannt. Daneben hängt eine Patenschaftsurkunde von Bundespräsident Roman Herzog für Markus. Die einmalige Zahlung von 500 Mark ist für Radkes eher ein Hohn. Von Politikern, die über geburtenschwache Jahrgänge jammern und nichts für die tun, die etwas dagegen tun, haben sie die Nase voll.

Also helfen sie sich selbst. Die Stereoanlage hat Paul Radke im „Glücksrad“ gewonnen. Weil seine Frau aus einer Friseurfamilie kommt, kann sich kein Coiffeur in der Stadt über regelmäßige Großkundschaft freuen. Echt aussehende falsche Markenkleidung kaufen sie in Polen. Radkes beklagen sich nicht. „Kinder sind keine Sache des Geldes, sondern eine Herzensangelegenheit“, formuliert es Paul Radke.

Manchmal allerdings bleibt ihnen die Luft weg. So wie bei einer Klassenfahrt, die Sandra vor drei Jahren machte. Radkes konnten nur 100 der 470 Mark teuren Reise bezahlen. Weil Paul Radke als Qualitätsprüfer bei Ford über dem Sozialhilfesatz liegt, erklärte sich das Sozialamt als nicht zuständig. Schließlich bot die Schule an, die restlichen 370 Mark zu übernehmen. Im Dezember vergangenen Jahres dann flatterte – pünktlich zu Weihnachten – eine Rechnung über 370 Mark von den Anwälten des Schulamtes ins Haus.

Jetzt, nachdem Paul Radke neun Monate lang krank war – er leidet an chronischer Leukämie – und eine neue Wasch- und Spülmaschine und ein Trockner fällig waren, müssen sie erst recht jede Mark zweimal umdrehen. Aber die Kinder haben nicht das Gefühl, daß sie zu kurz kommen. So fährt der 7jährige Paul, bis er seine eigenen Rollerskates bekommt, mit denen von Jasmin. Daß er Schuhgröße 34 und seine Schwester 43 hat, macht ihm nichts aus. Klagen gibt es auch nicht über das Taschengeld, dessen Höhe sich nach der Anzahl der Schuljahre richtet.

Zeit für sich haben die Radkes nur, wenn die Kinder schlafen. Zu ihrem 11. Hochzeitstag im August haben sie sich den Luxus erlaubt und sind zur Spätvorstellung ins Kino gegangen. Der Filmtitel: „Vergessene Welt“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen