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Ein „Meerkabarett“ versüßte den Sylter Sommer, der Brut machte ihn spritzig. Helge Klein blieb Ringreiter-König, und die eingereiste Diva stieg nicht auf die Wanderdüne  ■ Von Michael Westphal

Als „Michelle“ ihre letzten Hüllen fallen läßt und ein Scheinwerferspot ihre begnadeten Proportionen abtastet, haben sich die 333 Münder inzwischen an „Gänsegugelhupf in Traminergelee“, „1/2 Hummer „Thermidor“ mit Blattspinat“ und einem „Seeteufelkotelett auf Aubergineconfit“ gütlich getan. Was auf der Bühne zelebriert wird, ist als Augenschmaus einer Veranstaltung gedacht, die den zweideutigen Titel „Sylt kocht über“ trägt. Als „Michelle“ wieder ins Nichts verschwindet, konnte der Applaus nur verhalten ausfallen. Nicht, weil sie ihre Sache nicht perfekt beherrschte – im Gegenteil –, sondern mit Rücksicht auf die etwas betagteren Begleiterinnen, die ihre spendablen Gatten am Tisch streng im Visier behielten. Wer also hier zu heftig geklatscht hätte, der hätte preisgegeben, nach wem oder was ihn wirklich dürstete. Da half nur ein kräftiger Schluck Kübel-Surrogat „Monopole Diamant Blue 1985 Brut“ für 240 Mark die Flasche.

Zum Trost aber verweilte noch das aufreizende Pin-up-Girl, das für den ganzen Abend gechartert war und sich mit meterhohen Plateausohlen bei äußerst knapp geschnittenen Höschen durch die Tische schlängelte. Ausgestattet ist sie mit einem Bauchladen, auf dem sie allerhand Rauchwaren ihren zahlungsfreudigen Kunden feilbietet. Und als Krönung werden „Schokoladenvariationen“ gereicht: ein etwas hart gebackenes Nougatplätzchen darunter, auf dem sich in weißem Überzug die Silhouette der Insel abhebt.

Als man noch knabbernd die Insel en miniature verzehrt, wird die Aufmerksamkeit schon auf eine weitere artistische Einlage gelenkt: Rimma Krilowa, Hula-Hoop-Tänzerin aus St. Petersburg, zeigt eine Nummer, die schon in ihrem Namen steckt und bei vollem Magen wohl gänzlich undenkbar wäre, so manchen aber vom eigenen Bauch abgelenkt haben mag. Dieser sollte hier aber gezielt gefüllt werden. Denn: Sylts Topgastronomen traten hier an, um in dem blauen Zelt auf dem Flughafengelände von Westerland das womöglich einzige Kabarett mit Strandanbindung, Reizklima und Gezeiten zu eröffnen. Einen ganzen Sommer lang sollten sich damit die Sylter, vor allem aber ihre Badegäste verwöhnen lassen. Für wen also 300 Mark pro Kopf (k)ein Pappenstiel war, der konnte sich dieses Spektakel mit wohldosierten Comedy-Häppchen zum Auftakt der Saison gut munden und für die happigen Eintrittspreise der kommenden acht Wochen desensibilisieren lassen. Dafür wurde dann an siebzig Abenden en suite ein Kabarett-Menü vom Feinsten geboten.

Mittlerweile ist das „Meerkabarett“, das bereits zum vierten Mal sein Zelt auf der Insel aufschlägt und von den „Fliegenden Bauten Produktionen“ aus Hamburg organisiert wird, zu einer feststehenden Einrichtung geworden. In Nachbarschaft zum ausgedienten Tower steht dieses azurfarbene Gehäuse, auf dem von weitem sichtbar „Meerkabarett“ in Leuchtschrift prangt, an Stricken und Stangen festgezurrt. Allabendlich, bis in den späten August hinein, erwartete das so gerüstete Zelt seine gutgebräunten Gäste, und es konnte über regen Zuspruch nicht klagen. Das galt auch für die Sylter, die ansonsten erst in der Stunden entfernten Hansestadt solcherlei Programm geboten bekommen.

Da das Kulturelle auf Sylt bevorzugt eine Allianz mit dem Lukullischen eingeht, wurden sämtliche Veranstaltungen von wohlklingenden Pikanterien eines eigens postierten Gastro-Teams begleitet. Schon eineinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn konnten die sogenannten „Champagner- Tische“ okkupiert und das Leib- Geist-Gefüge bedient werden.

Ebenso fest plaziert ist der „Pinguin-Club“, der sich als Nachtsalon mit Live-Musik versteht und jeden Freitag und Samstag im Anschluß an die jeweilige Vorstellung lockte. Wer auf den insularen Kunstgenuß nicht verzichten möchte, den satten Eintrittspreisen auf Dauer aber weniger zugeneigt ist, der war hier gut aufgehoben, zumal sich dort die weniger etablierten Künstler ein Stelldichein gaben. „Etta Scolle“, „Tiger Lillies“, „Mouron & Terry Truck“, „Die Popette Betancor“ hießen sie.

Volles Zelt vor allem bei „Queen B.: Das Lied vom „Zitron'boom“ behandelt den alten Konflikt der Sylter, nur auf ihrer Insel zu Hause zu sein und in der Stadt einzugehen. Ina und Edda können davon ein Lied singen: „Ik frag mi wie, ik frag mi wat, blief ik op' Dörp'n oder blief ik in 'ne Stadt? Un mut ik mi hier schamen mit mien Zitronenboom?“ Dazu ein frecher Sylt-Medley mit zweifelhafter, männlicher Unterstützung: ein gewisser Frett Schneider. Äußerlich zwar nicht vom Hocker reißend, aber für 97 auf Sylt schon zur Kultfigur erklärt. Jeder Inselort wird einmal auf die Schippe genommen: „In Keitum bei Nacht, hat mich mal eine Frau angemacht“, „Wenn der graue Dauernieselregen fällt in Wenningstedt“.

Manfred Degen ist Allroundtalent und verdingt sich als Kolumnist und Buchautor („Sylt, eine Insel dreht ab“). Mit seinem Soloprogramm „Appartement frei!“ trat er im „Meerkabarett“ auf. Sein Publikum tobt, wenn er ihnen die Raffgier der Insulaner vor Augen führt, die jede noch so verwinkelte Bodenkammer für horrende Preise an zahlungswillige Gäste vermieten. Mit dem Motto „Gerümpel raus – Badegäste rein“ empfiehlt sich der Autodidakt: „Wenn es darum geht, die Gäste auszuplündern, halten wir Sylter zusammen!“ Mit wohlwollenden Buhrufen quittieren sie es ihm. Entweder haben sie dann gegenteilige Erfahrungen gemacht – was so gut wie ausgeschlossen ist –, oder aber sie haben den Ernst ihrer Misere noch nicht erkannt. Wahrscheinlicher ist letzteres.

Mittlerweile Stammgast im blauen Zelt: Georgette Dee. Eingeleitet wird jede Vorstellung von den routinierten Ermahnungen der Veranstalter, die Handies auszuschalten und auf keinen Fall im Anschluß auf die „Original-Dönninghaus-Currywurst aus Bochum“ zu verzichten (sechs Mark das Stück, dafür an Weißbrot!). Und schon beginnt die Chanteuse über ihre Rituale zu schwadronieren. Hebt an zu singen und das Champagnerglas: „Am Meer stand ich abends oft...“

Mit dabei natürlich auch Max Raabe, der gestriegelte Galan mit Schellack-Stimmbändern, der mit seinen balladesken Couplets das maritime Zelt in die zwanziger Jahre beamt. Das war, als die Insel gerade durch den Hindenburgdamm mit dem Festland verbunden wurde, vereinzelt ein Automobil durch den mondänen Badeort Westerland röhrte, die Promenade neu befestigt wurde, auf der man geschnürt und beschirmt etwas auf sich hielt. Und dort flanierte, wo heute Dünentorte en masse verzehrt wird, Eiskugeln geizig portioniert und mit einem Klecks Sylter Rote Grütze garniert werden, ständig ein Hauch von Crêpes und Fritten in der Luft liegt, wo noch bis zum Spülsaum um die letzte Mark gerungen wird.

„In Deutschland ganz oben“ (Inselmotto) wird wie auf keiner anderen Insel der Republik reichlich Zerstreuung geboten. Wir befinden uns in einem Dschungel manch ernstzunehmender Angebote, die aber unter reichlich kulturellem Schabernack herausgefischt werden müssen. Das ist nicht einfach bei den häufig etwas hölzern daherkommenden Veranstaltungstiteln wie „Franz Schubert... Eingehende Würdigung von Leben und Werk mit vielen Klangbeispielen“ oder die Ankündigung einer Morsumer „Belcanto-Gala“ im schicken Understatement als „Oper auf dem Dorf“. Bei bedecktem Himmel reizt ein Besuch in einer betulichen Nobelgalerie in Kampen mit Gouachen und radierten Seestücken. „Das Phantom der Oper“ als Gastspiel war der ausgemachte Flop 97.

Wer's braucht: ein Konzertnachmittag in Westerlands windschnittiger Kurmuschel mit dem unerschöpflichen Repertoire des neuen Kurorchesters. Eine Ortsführung „Westerland einst und heute“ zeigt, was dem Ort angetan wurde. Wer mag, lauscht einem Diavortrag mit H. Ahrenstorf: „Theodor Storm in Wort und Bild“.

Doch wie auch auf dem Festland verlangt man nach dem Event, verbunden meist mit eilig aufgeklappten Partytischen und aufgespannten Vierkantpavillons, in dem Schnellverzehrliches aus der Catering-Küche offeriert wird: Lachsschnittchen und mühselig moussierendes Sektlein. Nur was richtig teuer ist, scheint auch gut zu sein. Das ist auf Sylt nicht anders, vielleicht nur augenscheinlicher.

Wer sich in dieser Saison dem Trend entziehen wollte, der durfte Helge Klein beim „Keitumer Ringreiterturnier“ mit anschließender Fahnenweihe bewundern. Eine originäre friesische Sportart, bei der es, vereinfacht gesagt, darum geht, im Galopp Ringe aufzuspießen. Und wer doch nicht die Finger von der hohen Kunst und dem Kommerz lassen konnte, der war in der nördlichsten Gemeinde der Insel, List, mit den imposanten Wanderdünen gut aufgehoben. Auf einem Sportplatz der Marine, der kurzerhand zum „Platz an der Düne“ umgetauft wurde, gab Montserrat Caballé ein spektakuläres Open-air-Konzert. Mit der Aussage: „In Spanien muß ich ja erst auf einen sehr hohen Berg steigen, um solch reine Luft atmen zu können“, verriet die Diva ihre keineswegs pekuniären Motive, die sie nach Sylt zogen. Ohnehin ist dort das Betreten der Dünen verboten.

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