Lyrikerin soll erneut vor Gericht

■ Alina Wituchnowskaja, Kultfigur der Moskauer Jugendszene, wehrt sich mit Witz und Phantasie gegen absurde Vorwürfe

Moskau (taz) – Am vergangenen Wochenende wurde im „Art Media Zentrum TV-Galerie“ mitten in Moskau eine Ausstellung mit dem Titel „Der Prozeß“ eröffnet. Zu sehen sind dort unter anderem ein Käfig aus Geschenkbändchen, ein Himmel voller Wolken aus Zeitungsseiten und diverse Video-Collagen. Ironisch dokumentiert und ad absurdum geführt wird hier der Prozeß gegen die 24jährige Lyrikerin Alina Wituchnowskaja im Sommer 1995.

Wegen angeblichen Drogenhandels hatte Wituchnowskaja zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen. Bei der Gerichtsverhandlung traten berühmte Mitglieder des russischen PEN-Clubs als „gesellschaftliche Anwälte“ der Dichterin auf. Die Anklage gegen Alina wirkte fabriziert. Die von der Staatsanwaltschaft gegen sie ins Feld geführten Zeugen verwickelten sich in unglaubliche Widersprüche. Die Dichterin, eine Kultfigur der Moskauer Jugendszene, berichtete damals, der Geheimdienst habe von ihr während der Haft Aussagen über den Drogenkonsum von Prominentenkindern zu erpressen versucht.

Seit Herbst 1995 ist Alina Wituchnowskaja auf freiem Fuß, muß sich aber regelmäßig auf dem Polizeirevier melden. Einen einjährigen Deutschlandaufenthalt, den ihr, zusammen mit einem Literaturpreis, kürzlich die Toepfer-Stiftung spendierte, konnte das Wunderkind der zeitgenössischen russischen Lyrik deshalb nicht wahrnehmen.

Nicht zufällig findet die Ausstellung gerade jetzt statt. Denn die Moskauer Staatsanwaltschaft will den Prozeß in diesem Herbst wiederaufnehmen. Neue drogenabhängige ZeugInnen gegen Wituchnowskaja wurden in den vergangenen zwei Jahren im Gefängnis rekrutiert. Einige von ihnen haben ihre Aussagen allerdings schon wieder zurückgenommen – sofort nachdem sie entlassen wurden.

In gewisser Weise ist die gegenwärtige Ausstellung eine Fortsetzung der zurückliegenden Gerichtsverhandlungen. Wituchnowskaja hatte gleich nach ihrer Verhaftung 1994 beschlossen, sich „als Heldin eines Comics“ zu betrachten. Sie kleidete sich vor Gericht betont schrill, und ihre Repliken gegenüber der Richterin erinnerten bisweilen an Fritz Teufel. Bei der Ausstellungseröffnung verteilte Alina Reagenzgläser mit Gedichten auf angekokeltem Papier darin und betonte, es handele sich um das stärkste Narkotikum aller Zeiten.

Mit Sicherheit werden es auch ihre GegenspielerInnen vom Gericht in der bevorstehenden neuen Prozeßrunde an Absurdität nicht fehlen lassen. Kürzlich machte eine Untersuchungsrichterin Alina Wituchnowskaja mit einer versuchsweisen neuen Version der Anklage bekannt: „Wiederholter Drogenhandel unter Berücksichtigung der Einmaligkeit der Tat“. Barbara Kerneck