: Liebe als eine Art Wegzehrung
■ Der englische Regisseur Ken Loach zeigt in Carla's Song die weite Reise eines schottischen Busfahrers nach Nikaragua und geradewegs in die große Politik und die kleine Liebe
Ein roter, doppelgeschossiger Bus knirscht ins Bild. Langsam quält er sich eine kurvenreiche Straße entlang, hoch in die schottischen Berge. Es ist neblig, fast regnerisch und die Einstellung so überraschend, verrückt und beglückend weit weg von allem Realismus wie selten im Kino von Ken Loach. Als ob der Film hier sein poetisches Potential einmal ganz entfalten will, zeigt Carla's Song hier die Grenzen der Schwerkraft.
Oben angekommen trinken Carla (Oyanka Cabezas) und George (Robert Carlyle) Champagner – aus Plastikbechern, weil Kristall eine Lüge wäre. Sie reden, sie werden ein Paar. George hat Carla im Blick durch seinen Rückspiegel entdeckt und sich sofort verliebt. Vor den eigenen Kontrolleuren verhilft er ihr zur Flucht. Er sucht sie und verliert dabei die Haltestellen mehr und mehr aus den Augen. Im Moment da er die schöne Schwarzfahrerin wiederfindet, verläßt sein Bus auf lange Zeit sämtliche Linien des Glasgower Verkehrsnetzes.
Die Liebe kommt und bleibt mit stiller Selbstverständlichkeit, gerade wenn sie Fremde und Verzweifelte trifft. Mit dieser Liebe, die eine besondere Art der Wegzehrung ist, stattet Ken Loach seine Figuren aus – allesamt proletarisch, kämpferisch und eigentlich aussichtlos im Hintertreffen der Macht. Wenn Loach immer wieder an die Grenzen des Pathos reicht, dann zentriert sich darin nicht flimmernde Leidenschaft und verzweifelte Privatheit, sondern die kleine oder große, jedesmal aber dramatische Reise ins Politische. Nach dem spanischen Bürgerkrieg in Land and Freedom macht er sich in Carla's Song auf die Reise bis nach Nicaragua: mitten hinein in einen von den USA unterstützen Krieg der „Contras“gegen die sandinistische Regierung.
Nur mühsam bekommt George überhaupt eine Ahnung was mit Carla los ist. Woher ihre Traurigkeit rührt und worüber sie bloß schweigen kann? Als schließlich ein Suizidversuch klar macht, daß selbst die größte Liebe nicht ausreicht, das Geheimnis zu überspringen, erklärt George den gemeinsamen Weg nach Nicaragua zur einzigen Möglichkeit, die Starre und das stumme Entsetzen zu erlösen. Es ist dieser Punkt, an dem Carla's Song auseinanderzubrechen droht. Zu gut und zu wuchtig sind seine Absichten, und die Zeit der Überblendung, im Flugzeug über den Kontinenten, sie ist einfach zu kurz. Das Erzählen jedenfalls hört nach der Landung auf.
Anders als etwa in Ladybird, Ladybird, wo sich die Geschichte des Verlusts und der Bedrohung schlüssig über die eigene Syntax des Films ergibt, zersplittert Carla's Song in die Stationen eines politischen Kampfes. George, der unbedingt verstehen will, Carla, die sich auf den Abgrund ihrer Erinnerung zubewegt und eine furchtbare Serie von Überfällen, Hinterhalten und bestialischer Gewalt. Erst ganz zum Schluß findet der traumatisierte Film seine Sprache wieder – in einer kleinen Geste, die auf einmal die Anstrengung losläßt und zurückkehrt zum Anfang, zu dem Busfahrer. Elisabeth Wagner
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