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Kurzschlußfolgerungen

„Fernseh-Fieber“: „Vier Wochen ohne Fernsehen“ – Zwei Familien verzichteten 1976 einen Monat auf die Zaubermaschine (14.45 Uhr, 3sat)  ■ Von Klaudia Brunst

„Das wird wohl darin ausarten, daß man häufiger mal weggeht“, mutmaßt Rolf Schneider (28), als die bärtigen Studenten der Freien Universität den Apparat aus der Wohnung tragen. Die ZDF-Dokumentation „Vier Wochen ohne Fernsehen“ aus dem Jahr 1976 hat TV-Geschichte geschrieben. Augenfällig belegt der angeleitete Selbstversuch zweier Berliner Arbeiterfamilien, wie sehr das Fernsehen ein Teil des Familienlebens geworden ist. „Wird Zeit, daß er wiederkommt“, wird Hannelore Schneider (25) in der dritten Woche flüstern und zu weinen anfangen. Die Studenten werden die Kamera schonungslos weiterlaufen lassen. Auch das ZDF hält nicht inne. Das ist es doch, was es zu beweisen gilt: Vom Fernsehen geht Gefahr aus. Sagt das Fernsehen.

Die Redaktion 3sat hat es sich nicht leicht gemacht, die Dokumentation nach all den Jahren einfach so noch einmal zu versenden. Tatsächlich ist der ambitionierte Beitrag aus der Reihe „betrifft: Fernsehen“ mit dem Blick von heute ein lehrreiches – ja, nachgerade entlarvendes – Dokument. Denn der übermächtige medienpädagogische Aufklärungswille klärt vor allem eines auf: Die Schneiders und Völkers wissen als regelmäßige Mediennutzer viel mehr über das Fernsehen als die akademischen Medienanalytiker. Nur, weil sie daraus andere Schlüsse ziehen, merken das die Studenten nicht.

Sicher ist da am Anfang erst einmal das eigene Erschrecken. „Hätte nicht gedacht, daß einem das Ding so fehlt“, meint Renate Völker (40) am dritten Tag des Experiments. „Keiner weiß was mit sich anzufangen.“ Auch Hannelore Schneider hat sichtlich Probleme, auf die gewohnte Unterhaltung zu verzichten. Die Erwartung, sich nun mehr mit ihrem Mann zu unterhalten, löst sich nicht ein. Nur zögernd entschlüsselt der Film, warum: Beide Ehepaare arbeiten in der gleichen Zigarettenfabrik. Die Frauen in der Tagschicht von 6 Uhr bis 14.25 Uhr. Die Männer in der Nacht von 22 Uhr bis morgens um 6 Uhr. Mehr Zeit, um mal was anderes zu machen? Ausgehen beispielsweise? „Das ist Schwerstarbeit“, sagt Herr Schneider über seine Nachtschichten, „was für Strafgefangene.“ Für seine Frau ist die Nacht schon um 4.45 Uhr zu Ende. In der Fabrik muß sie arbeiten, bis man heulen könnte. „Tanzen gehen oder so? Fällt uns einfach nicht ein.“

Vier Wochen ohne Fernsehen. Das heißt zunächst einmal vier Wochen ohne die üblichen Gewohnheiten. Alle in der Fabrik unterhalten sich über das Fernsehen. Plötzlich können die Schneiders nicht mehr mitreden. „Hör mal, wie still es auf einmal ist“, meint Rolf Schneider und horcht in die erzwungende mediale Stille hinein. „Abwarten“, sagt Frau Völker, „wie wir das überstehen werden.“ Ihr Mann hat sich an sein altes Hobby erinnert. „Musikmachen“ nennt er das Aufnehmen und Abspielen von Tonbändern. „Das kann einem auf Dauer auch auf die Nerven gehen“, kommentiert seine Frau die ungewohnten Töne im Wohnzimmer.

Zunächst scheint das Experiment also zu glücken. Alle werden nervös und beginnen sich zwanghaft zu beschäftigen. Frau Völker löst nun Kreuzworträtsel, ihre Tochter Tina (12) fängt plötzlich an zu lesen. Ein Erfolg für die akademische Bildung? Die Studenten freuen sich über die ersten Anzeichen der Zermürbung, die sie für Fortschritte halten.

Wenn sie am Ende den Fernseher zurück in die Wohnzimmer tragen, haben die Studenten eine junge Ehe aufs Spiel gesetzt und noch einiges mehr unter Beweis gestellt. Sie sind trotzdem enttäuscht. Der Entzug hat bei ihren Probanden nicht die erwartete Einsicht gebracht. „Is dat schön, Schnuffel“, sagt Frau Völker zu ihrem Mann, „nu' haben die Abende endlich wieder einen Sinn.“

Dabei hatten die Versuchspersonen doch alle Vorstufen der Erkenntnis durchlaufen: „Fernsehen beruhigt“, weiß Frau Schneider jetzt. Vor dem Versuch hatte sie es vielleicht nur geahnt. Fernsehen macht stumm. Noch so eine Erkenntnis. „Was wirklich wichtig ist, wird auch sonst gesagt“, beharrt die junge Frau. Aber ohne Fernsehen achtet man mehr auf den anderen. Und hat dann mehr zu nörgeln. „Ich brauche meine Ruhe!“ sagt Frau Schneider mühsam beherrscht und zählt die Stunden, bis die fernsehlose Ruhe vorüber ist.

Sie wollen sich einfach nicht belehren lassen. Sie wissen alles über die Zaubermaschine („Natürlich, Fernsehen ist bequem“) und mögen trotzdem (oder gerade deshalb?) nicht davon lassen. Sogar die später so berühmt gewordene „Macht der Bilder“ reflektieren die vier einmütig, lehrbuchhaft, unaufgeregt. „Dem Fernsehen glaub' ich mehr“, sagt Rolf Schneider. „Wenn ich was Unglaubliches im Radio höre, sag' ich, die spinnen doch. Wenn ich das im Fernsehen sehe, werde ich nachdenklich. Warum? Na, weil ich das sehe!“

„Das Fernsehen ist also mächtig, und man glaubt ihm unkritisch. Wie finden Sie das denn?“ fragt der Student nach. „Ich find' das gut!“ ruft da Frau Völker nachsichtig lachend aus. Nicht zu begreifen, daß der junge Mann so begriffsstutzig ist.

Im Anschluß an die Dokumentation findet eine Diskussion über den Beitrag statt. Die nächste Folge zur 3sat-Reihe „Fernseh-Fieber“ erscheint am kommenden Mittwoch.

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