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Zehn Minuten für den Gang aufs Klo

Es sollte die lang erwartete große Debatte werden, der Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Geboten wurde am zweiten Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag nur Theater  ■ Aus Bonn Bettina Gaus

Gestern 9.37 Uhr. Im Plenum des Bundestages spricht der SPD- Fraktionsvorsitzende Rudolf Scharping. Bundeskanzler Helmut Kohl markiert unermüdlich Papiere mit gelbem Leuchtstift. Finanzminister Theo Waigel zeichnet mit goldenem Stift Akten ab, sein Kollege Rexrodt benutzt einen schwarzen. Seehofer liest. Merkel auch, ebenso wie Rühe und Nolte. In Blüms offenem Ordner liegen Schulhefte. Bohl blättert in einem Terminkalender. Kanther plaudert mit Schmidt-Jortzig hinten im Saal. Außenminister Kinkel hört zu. Immerhin.

Es ließe sich Geld sparen, wenn die Abgeordneten ihre Redebeiträge künftig direkt vom Fernsehstudio aus sprechen würden und alle Abstimmungen auf dem Postweg erledigt werden könnten. Das Parlament scheint in den Augen vieler Politiker als Ort des ernsthaften politischen Diskurses ausgedient zu haben. In ihrer Respektlosigkeit gegenüber den demokratischen Institutionen des Landes lassen sich die Volksvertreter durch politikverdrossene Bürger nur schwer übertreffen. Die Haushaltsdebatte war von politischen Beobachtern mit Spannung erwartet worden. Es war die Chance für eine große Stunde der Opposition.

Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine haben sie verpaßt. „In höchstem Maße die Unwahrheit“ zu sagen, wirft der saarländische Ministerpräsident der Regierung bei den Themen Steuer und Rente vor – und will doch selbst gerne auch im Unverbindlichen verharren. Zur Absenkung des Solidaritätszuschlages werde es nicht kommen, sagt er voraus, weil auch die Regierung wisse, daß sie „keine Mark“ habe. Die FDP-Politiker stünden dann wieder als „betrogene Betrüger“ da. Wie er denn selbst zum Soli stehe, will da FDP- Generalsekretär Guido Westerwelle in einer Zwischenfrage wissen. Lafontaine bleibt die Antwort schuldig.

Rudolf Scharpings Rede kommt über Worthülsen nicht hinaus. „Wo Wahrhaftigkeit fehlt, kann auch Weitblick nicht greifen.“ Was meint er damit bloß? Der Fraktionschef kündigt die neuen „Leitlinien“ der SPD an, und auf den Pressebänken werden die Kugelschreiber auf die Blöcke gesetzt. Dann kommen sie: „Neue Wege öffnen“ und „Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchsetzen“. Gewiß.

Die „große Debatte“ war ein einziges Theater

Das politische Ritual forderte das große parlamentarische Ereignis. Geboten wurde Theater. Die Form hing vom persönlichen Naturell des einzelnen ab, nicht vom politischen Standort. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos und Joschka Fischer von den Bündnisgrünen entschieden sich fürs Kabarett. Schallendes Gelächter von allen Seiten belohnte sie für einen gekonnten Schlagabtausch, in dem sie sich mit hübscher Betonung Zeitungsinterviews um die Ohren schlagen, in denen sich jeweilige politische Gegner selbst lächerlich gemacht hatten.

Gregor Gysi von der PDS tritt als Pausenfüller auf. Eine Viertelstunde Zeit für Telefonate oder den Gang aufs Klo. Dann füllen sich die Reihen wieder. Bundeskanzler Kohl spricht. Gleich am Anfang ein Lacher, als er diejenigen verspottet, die ihn angeschlagen oder gar am Ende wähnen: „Ich habe mich mühsam nur noch hierhergeschleppt. Aber ich bin da.“ Mit beiden Händen umfaßt er das Pult in seiner ganzen Breite.

Aber der Regierungschef hält die Pose des starken Kämpfers nicht durch. Er ist im Formtief. Seinen Finanzminister und die Leistungen der Koalition würdigt er in gestanzten Floskeln: „Theo Waigel hat in diesen Jahren eine exzellente Arbeit gemacht. Dafür bin ich ihm besonders dankbar.“ – „Grabrede“, tönt es aus dem Plenum, und auch der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine wird diese Worte später in seiner Rede als einen „Hauch von Abschied“ werten.

Helmut Kohl schiebt die Verantwortung von sich weg. Führende Wirtschaftsverbände und der DGB, sie alle und nicht nur er hätten doch das Ziel gehabt, bis zum Jahr 2000 die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Natürlich gebe es zu viele jugendliche Arbeitslose. Aber im europaweiten Vergleich stehe Deutschland in diesem Bereich „an vorletzter Stelle“. Das zeige doch, wie falsch der Vorwurf sei, daß für diese Jugendlichen nichts getan werde.

Die Fehlleistungen während der Kanzlerrede häufen sich. Falsche Jahreszahl bei der Erinnerung an den Nato-Doppelbeschluß, falsche Jahreszahl beim Verweis auf den Sturz von Kanzler Helmut Schmidt. Kohl spricht von der „Schaffung neuer Arbeitslosen“ und korrigiert sich den Bruchteil einer Sekunde zu spät: „Arbeitsplätze“.

Ganz müde, sogar schläfrig werden die Gesichter in den Reihen der Union. Köpfe werden auf die Hände gestützt, die sich nur selten zu flauem Applaus regen. Fraktionschef Wolfgang Schäuble sitzt lange regungslos da. Seine zusammengefalteten Hände bedecken Mund und Nase, fast verschwinden sogar die Augen dahinter.

Nichts stört mehr als das versammelte Desinteresse

Immer leiser wird der Kanzler, immer lauter der Geräuschteppich. Es sind nicht Zwischenrufe, die Kohls genuschelte Sätze immer schwerer verständlich werden lassen. Es sind private, am Rande geführte Unterhaltungen. Helmut Kohl kann das Plenum nicht mehr fesseln. Sein Schlußsatz bezieht sich auf die Bundestagswahlen: „Wir sind guter Dinge.“ Jetzt bricht er los, der nicht enden wollende, frenetische Beifall. In Fernsehshows wird das Publikum dazu mit großen Neonanzeigen aufgefordert. Das wenigstens ist im Bundestag noch nicht erforderlich.

Wolfgang Schäuble hat in seiner Rede die Inszenierung der Politik zum Thema gemacht: „Sie zeichnen sich inzwischen nur noch durch beachtliches komödiantisches Talent aus,“ sagte er an Joschka Fischer gewandt. Dem parlamentarischen Geschäftsführer der SPD warf er vor, während Kohls Rede durch die Reihen gegangen zu sein und zu Störungen aufgefordert zu haben: „Sie versuchen uns am Reden zu hindern durch Unruhe, die Sie organisieren.“ Als ob irgendeine organisierte Störung so wirkungsvoll sein könnte wie das parteiübergreifende lähmende Desinteresse der Abgeordneten an ihrem eigenen Handeln.

Nur bei Personalquerelen und Koalitionsfragen wachen die Parlamentarier auf. Wolfgang Gerhardt hat die Aufmerksamkeit des ganzen Saales, als er sich von Scharpings Vorwurf der Klientelpartei persönlich verletzt zeigt. „Sie hätten keinen Bundeskanzler Willy Brandt gehabt ohne diese FDP, die hier sitzt.“ Wo denn heute die Bereitschaft der SPD zu großen Reformen sei? „Nach Tony Blair wird doch gefahndet.“

Ein Raunen geht durchs Haus. Doch, das habe er als Werbung an die Adresse der Sozialdemokraten verstanden, meint ein SPD-Abgeordneter später in der Lobby. Vielleicht hielten die Liberalen ja Ausschau nach einem neuen Koalitionspartner. Das sei doch prima. Das könne die SPD nur stärken.

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