: Ewig lockt das Weiß
■ Die Anziehungskraft der Polarwelt auf Entdecker und Schriftsteller ist groß
Ungesehen und unbetreten, in mächtiger Todesruhe schlummerten die erstarrten Polargegenden unter ihrem unbefleckten Eismantel vom Anbeginn der Zeiten. In sein weißes Gewand gehüllt, streckte der weiße Riese seine feuchtkalten Eisglieder aus und brütete über Träumen von Jahrtausenden. –
Die Zeiten gingen; tief war die Stille.
Da – in der Dämmerung der Geschichte, fern im Süden – erhob der erwachende Menschengeist sein Haupt und schaute über die Erde...“
Reiseführer über die Arktis und Antarktis gibt es nicht viele, Reiseberichte dafür um so mehr. Nicht alle beginnen so eindrucksvoll wie derjenige des Polarforschers und späteren Friedensnobelpreisträgers Fridtjof Nansen von der „Norwegischen Polarexpedition 1893–1896“. Die meisten geben sich reichlich nüchtern. Die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Information, schreibt etwa im Jahr 1835 John Ross, seines Zeichens Polarforscher, und deshalb habe er seinen Bericht verfaßt. Gemeint ist damit, sie verkauften sich gut. Die Zahl der Polarforscher war ohnehin Legion. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts rüstete mindestens eine Expedition pro Jahr zur Reise an den Nord- oder Südpol.
Es ist beeindruckend, welche Faszination die totale Einöde auf die Menschen auszuüben vermag. In der Arktis gibt es immerhin die Faszination des Nordlichts, in der Antarktis nicht einmal das. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. sind Versuche belegt, gen Norden oder Süden bis ans Ende der Welt vorzudringen. Liegt auch der Höhepunkt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Gier, die letzten weißen Flecken der Welt mit der jeweiligen Landesflagge zu bepflanzen, am größten war, so reißt die Liste der Veröffentlichung nach der „Eroberung“ des Nordpols 1909 und des Südpols 1911 keineswegs ab. Noch heute beglücken Expeditions- und Abenteuerberichte die Bibliotheken. Seien es „9 Forscherinnen im Eis“, sei es „Zwischen Nordpol und Feuerland – ein schwäbischer Abenteurer erzählt“.
Interessanter als die Ergebnisse der Polarfahrten ist die innere, die symbolische Bedeutung dieser weißen Welten. Warum schickt Mary Shelley ihren Frankenstein auf der Jagd nach seinem Monster ins Packeis des Nordens? Warum nimmt Stefan Zweig Robert Scotts Scheitern am Südpol in seine „Sternstunden der Menschheit“ auf? Warum schließlich beschäftigten sich in den achtziger Jahren zwei Nachwuchsgrößen der deutschen Literatur, Sten Nadolny und Christoph Ransmayr, mit der Nacherzählung von Polarexpeditionen des 19. Jahrhunderts?
Im 19. Jahrhundert hält mit der Romantik die Unterscheidung des Erhabenen vom Schönen Einzug in das literarische Denken. Frankenstein, der auf der Flucht bzw. auf der Suche nach dem von ihm geschaffenen Monster viel herumkommt, schippert unter anderem auch das Rheintal herunter. Die Landschaft ist schön, pittoresk, harmonisch. Was die Seele Frankensteins aber wirklich beutelt, das Sublime, das eine Mischung aus Horror und Faszination hervorruft, liegt anderswo: die Gletscher der Alpen und das Eis der Arktis, kalt, weiß, erhaben.
Zur ästhetischen Faszination des ewigen Eises tritt ein zweiter Aspekt. Der Kampf Mensch gegen Natur ist in diesen Breitengraden (Nord wie Süd) ein ungleicher, das Scheitern mehr oder weniger vorprogrammiert. Tod durch Erfrieren, Erschöpfung, kannibalisch motivierte Ermordung.
Die wahre Größe zeigt sich in der Niederlage, nicht im Erfolg. Es ist eben nicht Roald Amundsen, Erstbezwinger des Südpols, den Stefan Zweig in seine Sammlung bedeutendster Momente der Menschheitsgeschichte aufnimmt, sondern Robert Scott, der zu spät kommt und auf dem Rückweg zusammen mit drei Gefährten an Hunger und Kälte stirbt.
Zweig hat diesen Text eines heroischen Scheiterns gegen Ende der zwanziger Jahre verfaßt. Damals gab es den deutschen Idealismus, noch bevor sich das Volk der Dichter und Denker als eines der größten Schlächter der Menschheitsgeschichte entpuppte. Das Pathos, mit dem Zweig schreibt, ist heute – so wunderschön sein Stil auch klingt – undenkbar.
Wenn Polarforschung zum Thema wird, dann als Folie der Dekonstruktion des Heldenmythos, wie in Ransmayrs „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“.
Ransmayr nimmt sich die authentische österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von 1872 bis 74 und unterlegt sie mit der fiktiven Geschichte des Enkels eines der Matrosen, der 1981 den Spuren der Expedition nachfährt und sich im Eis von Spitzbergen verliert. Bemerkenswert dabei ist, daß bei aller Demontage der „Helden“ – sie hassen sich gegenseitig, sind zum Teil bereit, aus Ehrgeiz ihr Leben zu opfern, entdecken eigentlich gar nichts – die Faszination, die die Expedition ausstrahlt, ungebrochen bleibt. Wahres Heldentum ist eben unzerstörbar Martin Hager
Mary Shelley: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“, Ullstein 1994, 288 S., 14,90 DM
Stefan Zweig: „Sternstunden der Menschheit. Zwölf historische Miniaturen“. Fischer 1997, 14,90 DM
Christoph Ransmayr: „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“. Fischer 1987, 277 S., 14,90 DM
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