piwik no script img

Vorhölle Heilsarmee

■ Sven-Eric Bechtolf inszeniert das expressionistische Stationendrama Von morgens bis mitternachts mit statthaftem Anachronismus im Thalia Theater

In der schlechten alten Zeit genügte das Rascheln eines Seidenkleides, um einen Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen, heißt es. Einer der wenigen Orte, wo das vermutlich wirklich funktioniert hat, ist das Theater. Ob so eindeutig wilhelminische Bühnenwitze heute noch zum Lachen sind? Es steht auf dem Prüfstand, denn das Thalia Theater eröffnet die neue Spielzeit mit Georg Kaisers expressionistischem Drama Von morgens bis mitternachts.

Das Stationendrama, 1917 in München uraufgeführt, läßt einen soliden Bankbeamten nach besagtem Zwischenfall mit der Kasse durchbrennen und führt ihn über eine Reihe von lächerlichen, grotesken und tragischen Situationen zur allseits bekannten Erkenntnis, daß mit Geld nichts von Wert zu kaufen sei. Biographische Analogien sind erlaubt. Kaiser, neben Gerhart Hauptmann der beliebteste Dramatiker der zwanziger Jahre, saß selbst wegen Betrugs und Unterschlagung im Gefängnis und war auch sonst kein Freund des biederen bürgerlichen Lebenswandels.

Man werde Kaiser nicht gerecht, wenn man ihn bierernst nimmt, erklärt Sven-Eric Bechtolf, der das Drama für die Thalia-Bühne inszeniert. Es gelte, das moral- und symbolüberladene Stück zu entschlacken und zu entstauben. Das Märchenhafte, Phantastische und Verrückte soll deshalb im Mittelpunkt der Inszenierung stehen. Es geht Bechtolf um einen Mann, der mit der Macht und dem Glücksversprechen des Geldes spielt und bereit ist, für dieses Experiment aus allen Nähten zu platzen. Auf einem schmalen Grat zwischen Anrührung und Komik stolpernd, gerät der Bankkassierer in eine groteske Vorhölle, deren Räume – vom trauten Heim bis zum Versammlungssaal der Heilsarmee – zu Schauplätzen seiner Entgrenzung werden. Das Stück lasse ihn an eine Schlacht denken, sagt Bechtolf.

Um eine solche auf der Bühne zu entfesseln, fährt er mittelschweres Geschütz auf. Aufwendig sei die Produktion vor allem für das Personal. Neben Werner Wöbern in der Hauptrolle werden Akrobaten, eine Vier-Mann-Kapelle und acht weitere Darsteller für die etwa 40 Rollen die Bühne bevölkern. Formal will sich die Inszenierung am experimentellen Theater der zwanziger Jahre orientieren, ohne es nachzuahmen. Natürlich sei das expressionistische Theater nicht rekonstruierbar, doch dem Zeitgeschmack ließe sich sehr wohl nachspüren, meint Bechtolf.

Auch die Musik und die Ausstattung sollen an die wilden und bitteren Jahre zwischen den Weltkriegen erinnern – angesichts der Entstehungszeit des Stücks ist es ein bißchen gemogelt, doch für Sven-Eric Bechtolf ist der Anachronismus statthaft. Von morgens bis mitternachts muß er im Kreise rasen, der brave Bankkassierer, bis der Hamsterkäfig bricht. Der arme Mann. Dabei hatte er es zuhause doch so gemütlich.

Barbora Paluskova

Premiere: Freitag, 19. September, 20 Uhr, Thalia Theater

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen