piwik no script img

„Nickel or dime“ inmitten von Law and order

■ In New York häufen sich die Skandale wegen zunehmender Übergriffe der Polizei. Doch die Dealer am Washington Square lassen sich von den martialischen Cops kaum beeindrucken

Ein lauer Augustnachmittag im New Yorker Greenwich Village: Jay bummelt wie zufällig durch den belebten Washington-Square- Park. „Cigarettes? Smokes?“ raunt er jungen Leuten, die konspirativ genug aussehen, im Vorbeigehen zu. Andere Kleindealer bieten ihr Haschisch mit der klassischen Variante „Nickel or dime?“ an – Nickel steht für Stoff zu fünf Dollar, Dime für zehn. Wieder andere fragen auffällig oft nach der Uhrzeit. Leise fluchen sie den unbeleckten Passanten hinterher, die artig antworten, wie spät es ist.

Während Jay seine Runden dreht, hören sich dreißig Meter weiter einige hundert New Yorker und Touristen das Gratiskonzert des Miles-Davis-Saxophonisten Kenny Garrett an, Polizei steht an jeder Ecke. Und auch, wenn hier gerade keine Konzerte stattfinden, steht fast immer ein Streifenwagen auf den Platz, rollen Ordnungshüter auf Mountainbikes oder dreirädrigen Caddies um den Springbrunnen. Daß man hier leicht an Dope herankommt, hat sich längst bis zum New York Police Departement herumgesprochen, und seit der umstrittene Rudolph W. Giuliani Bürgermeister der Metropole ist, heißt die Devise Aufräumen. Im vergangenen Jahr stellte die Polizei der Zehnmillionenstadt knapp 1,2 Tonnen Marihuana sicher (und 7,3 Tonnen Kokain).

Die vielzitierte Verstärkung der Polizeipräsenz und das beherztere Zupacken der Cops, die von Giuliani nicht zuletzt bei zuvor geduldeten Kleindelikten vorangetrieben wurden, werden von vielen Bürgern begrüßt, sind sie doch Teil des Konzepts, das die Gewalt in den letzten Jahren drastisch zurückgedrängt hat. Erklärtes Ziel ist es, so Polizeipräsident Howard Safir, die New Yorker umzuerziehen. Nicht die Gesetzeslage habe sich geändert, sondern die Verhaltensregeln der Polizei. Wer kleinere Ordnungswidrigkeiten begeht, um die sich früher niemand gekümmert hat, läuft inzwischen Gefahr, unversehens festgenommen zu werden – etwa wenn er den Ghettoblaster im Freien zu sehr aufdreht, über die Drehkreuze an einer U-Bahn-Station hüpft oder in der Öffentlichkeit Alkohol zu sich nimmt (für letzteres haben 1996 19.041 New Yorker gerichtliche Vorladungen erhalten).

Abgesehen von den größeren Skandalen, die das Vertrauen in die Polizei bröckeln lassen, meinen Kritiker, daß die Cops unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung den Bogen in kleinen Einzelfällen überspannen. Immer öfter reicht es schon aus, nach einem Drogenkonsumenten auszusehen, um von einem Officer aufgegriffen und auf wenig zimperliche Art durchsucht zu werden.

Die New York Times berichtete über den Fall des 37jährigen Musikers Chris Cunningham, der im April dafür festgenommen wurde, im falschen Haus an den Briefkästen den Namen eines Freundes zu suchen. Das mit Graffiti verzierte Haus im „Szeneviertel“ East Village stand unter Beobachtung, weil es als Drogenumschlagplatz polizeibekannt war. Ohne den leisesten Hinweis, daß Cunningham Drogen bei sich hätte, wurde er für 19 Stunden festgenommen, wurde ausgezogen und durchsucht. Zu Protokoll gegebener Vorwurf: „Weder wohnt er dort, noch besuchte er dort jemanden.“ Zwei Monate später wurde das Verfahren eingestellt.

Ironischerweise unterscheidet sich die Behandlung der eines geringfügigen Vergehens Unschuldigen nicht im geringsten von der eines Schuldigen: Wer in New York festgenommen wird, wird in der Regel in Handschellen gesteckt, durchsucht, und während seine Akten auf vorhergegangene Delikte überprüft werden, hat er keinen Kontakt zur Außenwelt. Bevor er einen Richter sieht, vergehen um die 24 Stunden. Bei kleinen Vergehen (öffentliches Trinken oder Drehkreuzspringen) sehen die Richter allein dieses Prozedere schon als Strafe genug an.

Dementsprechend ist die Zahl der Beschwerden über unmäßiges Polizeiverhalten (zu 80 Prozent von Latinos und Schwarzen eingereicht) seit 1993 um 61,9 Prozent gestiegen, die der Beschwerden über unrechtmäßige Durchsuchungen gar um 135 Prozent.

Cunninghams und noch viel härtere Fälle gehören zum täglichen Stadtgespräch. Allein, Jay und seinen Kollegen scheint all das nichts anzuhaben. Sie drehen weiter gemütlich ihre Runden am Washington Square und handeln – manchmal selbst in Sichtweite der Ordnungshüter – mit ihrem Kraut und Harz. Martin Kaluza, NY

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen