Leere Reisschalen trotz Wirtschaftswachstums

■ In China gibt es schon heute mehr Arbeitslose als offiziell zugegeben. Mit den jetzt angekündigten Reformen der Staatsbetriebe wird ihre Zahl stark ansteigen

Berlin (taz) – China kann seinen Wirtschaftsboom nach Meinung der Weltbank nur dann fortsetzen, wenn die Regierung unbeirrt an ihrem Reformkurs festhält. In dem gesten in Hongkong vorgestellten Bericht „China 2020“ bezeichnete die Bank China als die am schnellsten wachsende Wirtschaft. Seit Reformbeginn 1978 sei die Wirtschaft um jährlich 9,4 Prozent gewachsen und die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, um 60 Prozent zurückgegangen.

Die Bank, die auf eine zügige Reform der Staatsbetriebe drängt, sieht für die Zukunft auch soziale Probleme. Neben städtischer Arbeitslosigkeit blieben Alte, Kranke, Arme und Frauen hinter dem Boom zurück. „Für sie muß der Staat Vorsorge treffen“, sagte Weltbank-Direktor Nicholas Hope bei der Vorstellung der Studie. Um zu zeigen, daß die Kommunistische Partei und ihr Führer Jiang Zemin bei ihrer Reform der Staatsbetriebe voll von den Arbeitern unterstützt werden, traten auf dem gestern beendeten Parteitag erstmals „Modellarbeiter“ und „Helden der Arbeit“ vor der Presse auf. „Diese Reform wird die persönlichen Interessen der Individuen weiter in die kollektiven Interessen integrieren“, lobte Ölarbeiter Wang Qimin im korrekten Parteijargon die Reformen, die zur Entlassung von Millionen von Arbeitern führen werden. Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua wies darauf hin, daß von den 2.048 Parteitagsdelegierten 494 Arbeiter und andere Basisvertreter seien.

Arbeitsminister Li Boyong ist optimistisch, daß im Jahr 2000 die städtische Arbeitslosigkeit vier Prozent nicht übersteigt. Die Regierung beziffert die Quote der städtischen Arbeitslosen für Ende März mit 3,1 Prozent. Doch sie liegt viel höher. So geht die Bank of China von acht Prozent aus und zählt außerdem zu den 5,63 Millionen registrierten Arbeitslosen weitere sieben Millionen überschüssige Arbeitskräfte. Die Arbeiterzeitung spricht von „theoretisch 24 Prozent“. Viele De-facto-Arbeitslose seien beurlaubt oder aus anderen Gründen nicht registriert.

Schätzungen zufolge werden 30 Prozent der 113 Millionen Industriearbeiter nicht gebraucht, wenn die 118.000 staatlichen Industriebetriebe saniert werden. 70 Prozent davon machen Verluste und werden noch durch Kredite staatlicher Banken am Leben gehalten. Da diese nie zurückgezahlt werden können, belasten sie Staatshaushalt und Banken. Mit der Arbeit in den Staatsbetrieben verlieren die Menschen ihre soziale Absicherung. Die sogenannte eiserne Reisschüssel stellte bisher nicht der Staat, sondern die Arbeitseinheit. Die Kosten für Pensionen, Wohnungen, Kindergärten und Kliniken tragen zu den Verlusten der Betriebe bei. Doch während Sozialversicherung und Arbeitsämter erst aufgebaut werden, wachsen Not und soziale Spannungen.

Streiks und Arbeiterproteste nehmen zu. 1996 hat sich die Zahl der Arbeitskonflikte gegenüber dem Vorjahr auf 9.737 mehr als verdoppelt. Im April nahmen in der Stadt Nachong in der Provinz Sichuan über 20.000 Textilarbeiter einen Fabrikdirektor als Geisel, bis die Regierung Banken anwies, ihnen ausstehende Gehälter zu zahlen. Im Juli demonstrierten in Mianyang in derselben Provinz tausend Arbeiter bankrotter Staatsbetriebe für soziale Absicherung. In Chengdu demonstrierten im Juli 500 Arbeiter für Jobsicherheit. Anfang September kam es in Dujiangyan zu Unruhen, als unlizensierte Rikschas konfisziert wurden, mit denen Arbeitslose ihr Überleben sicherten.

Die steigende Arbeitslosigkeit gilt als größte Bedrohung für die Herrschaft der KP. Bisher richten sich die Proteste vor allem gegen lokale Kader und noch nicht gegen die Zentralregierung. Vom offiziellen allchinesischen Gewerkschaftsbund können von Arbeitslosigkeit Bedrohte keine Unterstützung erwarten. Die Gewerkschaftsführer vertreten die Interessen der Partei und meist der Firmenleitungen. Der Gewerkschaftsvorsitzende Wei Jianxing ist auch Minister für Disziplin.

Der in Hongkong lebende Dissident und Mitbegründer der 1989 verbotenen ersten unabhängigen Gewerkschaft, Han Dongfang, geht von 60 Millionen Arbeitslosen in fünf Jahren aus. Er glaubt, Peking werde die Arbeitslosen selbst für ihr Schicksal verantwortlich machen. „Wir brauchen keine Reform, die die Gegensätze zwischen Arm und Reich verschärft“, so Han zur taz.

Der Weltbank wirft er vor, sich nicht um die Arbeitslosen zu kümmern. Die KP steckt im Dilemma. Sie muß die maroden Staatsbetriebe sanieren, um die Wirtschaft auf eine gesündere Basis zu stellen. Die damit verbundenen sozialen Probleme untergraben aber weiter das wackelige ideologische Fundament der Arbeiter- und Bauernpartei.

Zu den Arbeitslosen in den Städten kommen weitere 130 Millionen ländlicher Arbeitskräfte, die als überschüssig gelten. Auch die angekündigte Reduzierung der Armee um eine halbe Million wird die Arbeitslosigkeit vergrößern. Sven Hansen