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In der Verzichtsfalle

■ ÖTV lehnt Lohnverzicht für Arbeitszeitverkürzung ab

Diese Entscheidung ist ein Signal. Schlimmer hätte die Funktionärsbasis der ÖTV ihren Vorsitzenden Herbert Mai kaum abbügeln können. Während Mai kürzlich einen Lohnverzicht im Tausch für mehr Jobs in Aussicht gestellt hatte – „uns geht es um Beschäftigung, alles andere ist nachrangig“ –, kam gestern der Konter von der Basis: Arbeitszeitverkürzung ja, aber bitte „ohne Eingriff in bestehende Einkommen“. Mit diesem Schlachtruf geht es nun in die Tarifrunde, die damit in den gewohnten Bahnen ablaufen dürfte.

Das ist für all jene ein herber Rückschlag, die seit Jahren in und außerhalb der ÖTV für eine „solidarische Arbeitsumverteilung“ streiten. Ein Szenario dafür hat der Berliner Politologe Peter Grottian vorgelegt. Wenn die oberen Gehaltsgruppen im Tausch gegen mehr Freizeit auf 10 Prozent Einkommen verzichteten, die mittleren auf 5 Prozent und die unteren sich mit einem Inflationsausgleich beschieden, stünden 25 Milliarden Mark für ein kleines Jobwunder zur Verfügung. 300.000 bis 500.000 neue Voll- und Teilzeitarbeitsplätze wären möglich.

Es gibt gewiß auch in der ÖTV Leute, die mit einem solchen tarifpolitischen Ansatz sympathisieren, aber populär sind diese Vorschläge nicht. Zum einen, weil bei vielen der 3,2 Millionen Beschäftigten der Spielraum für Lohnverzicht objektiv tatsächlich minimal ist. Zum anderen hat das „Teilen in der Klasse“ kaum zu neuen Jobs geführt.

Auch in der Metallindustrie wird die Basis nur dann für einen Lohnverzicht zu gewinnen sein, wenn zeitgleich Betrieb für Betrieb Neueinstellungen vereinbart werden. Auf unverbindliche Arbeitsplatzversprechen lassen sich auch die Metaller nicht mehr ein. Ein Blick auf die Einkommensverteilung zeigt, daß diese Vorsicht nur zu berechtigt ist: Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer hat 1994 nach Abzug von Steuern und Abgaben real gerade mal 1,9 Prozent mehr verdient als 1980. Das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen verdoppelte sich dagegen in diesem Zeitraum. Im Klartext heißt das: Der Verzicht hat die Reichen reicher gemacht, ohne den Arbeitslosen zu helfen. Eine „Verzichtsfalle“, aus der nur ein kluges Bündnis von Politik und Gewerkschaften den Weg weisen kann. Doch dazu bedarf es in Bonn einer anderen Mehrheit. Walter Jakobs

Bericht Seite 2

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