Von Konquistadoren und Glaubenskriegern

Christentum und Islam erheben den Anspruch auf universelle Gültigkeit. Doch die Wahrnehmung des Fremden ist bei beiden grundverschieden  ■ Von Zeynep B. Sayin

„Das ,Andere‘ kann nur Resultat einer internen Differenzierung des Eigenen sein und ist schlußfolgernd dem zweiten unterordnet.“ (Ernesto Laclau)

1492 segelte Kolumbus über das Meer und entdeckte Amerika. Das gänzlich Andere, dem er in der Neuen Welt begegnete, war nicht der Fremde in ihm selbst, es war nicht „die verborgene Seite in unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht“ (Kristeva), sondern ein absolut Anderes, das nicht einmal wahrgenommen oder übermittelt werden konnte, gerade weil es ihm fremd war. So wird beispielsweise in einer Marchall McLuhan zugeordneten Geschichte erzählt, daß McLuhan einem afrikanischen Bantu-Stamm einen Film über Manhattan gezeigt habe; auf die Frage, was sie gesehen haben, habe der Stamm einstimmig geantwortet: Hühner! Diese paar Hühner seien das einzige gewesen, was sie wahrgenommen haben. Sie erschienen ihnen als das einzig Wirkliche. Um das radikal Andere, was sie zuvor noch nie gesehen hatten, wahrzunehmen, habe ihnen das Sehen und das Beschreiben versagt.

Es ist ein Moment der seltsamen Identifizierung: solange man das Andere nicht wahrnehmen kann, ist man das Andere, und das Andere ist das eigene Selbst zugleich, weil keine Form von Differenzierung erfolgen kann. Doch ist die Grundbedingung jeder Erkenntnis des Eigenen, daß sie über die Vermittlung des jeweils Anderen stattfinden kann. Um das Eigene konzipieren zu können, bedarf es immer eines Anderen. Auf kultureller Ebene beruht die Identifikation mit den eigenen Werten auf ihrer Gleichsetzung mit angeblich universell geltenden Werten. Jede Form von kultureller Abweichung von dieser Universalität wird als Bedrohung abgelehnt.

So gesehen – so paradox dies sich auch anhören mag – kämpft Kolumbus in der Neuen Welt nicht gegen kulturelle Ungleichheiten, sondern erklärt sie angesichts der Universalität Jesu Christi als unerheblich: durch die christlich-universelle Ordnung der Wahrheit wird der Andere erst eindeutig erkannt und abgelehnt. Das Postulat der universellen Gleichheit schlägt schnell in das Postulat der Ungleichheit und der eigenen Überlegenheit um. So kann reinen Gewissens das Andere zu einem Ding verwandelt werden, das man nach Belieben zerstören oder einverleiben kann (Todorov).

Kolumbus kannte wohl, als er den Atlantik überquerte, alle Sagen um jene verlorenen Städte und geheimnisvollen Länder. Der Mann, der das Mittelmeer hinter sich gelassen hatte, um die Neue Welt zu entdecken, glaubte nämlich, daß das Ende der Welt nahe sei, und wähnte sich als Werkzeug der Apokalypse. In Erinnerung an die Offenbarung Johannes meinte er, allen Völkern am Rande der Christenheit das Evangelium predigen zu müssen, bevor Christus erneut erscheinen werde. Deshalb trug er wohl den Namen Christóbal, was so viel bedeutete wie der Vollstrecker Jesu, Christum ferens. Die Konquistadoren dachten, in Neuindien das verlorene Paradies gefunden zu haben.

Hätten sie davon gewußt, hätten die Muslime am Rande des alten Meeres über die Dhimmi (Nichtmuslime, Schutzbefohlene) den Kopf geschüttelt. Ihnen wäre es nicht nur unheimlich erschienen, daß sich Kolumbus in der Begegnung mit der Neuen Welt anmaßte, die entdeckten Inseln wie Menschen umzutaufen. Es wäre ihnen ungeheuerlich, ja als Gotteslästerung vorgekommen, daß er sich in eigener Initiative als Christum ferens bezeichnete. Für sie waren alle Menschen Sklaven („kul“, „makhluq“) angesichts Gottes, und sie hatten sich seinem Wunsch zu fügen. Es lag also nicht in der Hand des Menschen, frei zu handeln und in Gottes Namen eine neue Zeit einzuleiten. Genausowenig konnte er im Namen Gottes anderen Menschen seinen Glauben aufzuzwingen. Im Koran steht: „Es sei kein Zwang im Glauben“ – es steht nur Gott zu, „das Rechte vom Irrtum zu unterscheiden“.

So gesehen steht es den muslimischen Rechts- und Gottesgelehrten, im Gegensatz zu den Christen, nicht zu, sich als Vermittler des Heils zu verstehen. Sie fühlten sich lediglich als Wahrer der gottgewollten Ordnung. Dieses theozentrische Weltbild des Islam besagte, daß die Vorstellung, einen eigenen Willen zu haben, dem Kufr (Unglaube) gleichkommt. Deswegen trifft es zu, daß es keinen islamischen Begriff für „Individuum“ gibt. Der Islam geht daher – damals wie heute – davon aus, „daß die menschliche Vernunft ohne die göttliche Führung unfähig ist, den richtigen Weg für ein angemessenes Leben zu finden“ (al-Awwa; B.Tibi, 1994, 251).

In diesem Sinn, kann man behaupten, gibt es „das Andere“ im Islam nicht, weil dem eigenen Selbst das Subjekt fehlt: um das Andere als das Andere wahrnehmen und es von dem eigenen Selbst unterscheiden zu können, bedarf es eines erkennenden Subjekts, das sich die zu erkennende Welt als Objekt gegenübersetzt. Denn um zu einer Gegenüberstellung des Anderen – in Form von einer „Außenwelt“ – und zu Aussagen über diese Konfrontation zu kommen, muß das Eigene von dem Anderen differenziert werden. Es muß in einer Art und Weise konstituiert werden, daß Zusammenhänge und Vergleiche entstehen. Da aber Gott die zentrale Stelle einnimmt, die die Wahrheit aller menschenmöglichen Aussagen sichert, kann im Islam der Schritt zu dieser Gegenüberstellung nicht vollzogen werden. Also wird dem Anderen – so paradox es auch klingt – seine Differenz zugesprochen. Sie ist gottgewollt.

Dies heißt nicht, daß sich die Reformansätze des Islam seit dem 19. Jahrhundert nicht auch über den Anderen (sprich: den feindlichen modernen Westen) definieren würden. Aber der Islam des siebten Jahrhunderts hat sich als philosophische Grundhaltung nicht über den Umweg des Anderern definiert. Seine direkte Referenz und letzte Finalität ist Gott der Allmächtige. Da dieser nicht nur der Schöpfer der islamischen umma, sondern der ganzen Menschheit ist, können die Anderen auch nur sein Wille sein: „Sprich: ich habe keine Macht über mein eigenes Weh und Wohl ohne Allahs Willen. Jedes Volk hat seinen Termin. Wenn sein Termin gekommen ist, so können sie keine Stunde verschieben oder beschleunigen.“

Sicherlich verfügt auch der Islam über einen kulturellen Universalitätsanspruch, doch ist er anderer Art als der des europäischen Christentums. Während das christliche Weltbild, wenn es die Normen und Begründungen für Erkenntis formuliert, die Gleichheit aller Menschen postuliert, plädiert der Islam für ihre wesenhafte (ontologische) Ungleichheit. Im Islam existiert die Vorstellung nicht, daß allen Menschen „eine Reihe von ,unveräußerlichen‘, elementaren Rechten zukommt, die unabhängig von der positiven Rechtsordnung eines Gemeinwesens universale Gültigkeit besitzen soll“ und die „auf die Tradition des christlichen Humanismus“ zurückgeht (Honneth, 1994, 875). Diese Vorstellung existiert nicht, weil nach islamischer Ontologie die Menschen von Gott nicht „gleich“, sondern „unterschiedlich“ erschaffen wurden. Auf der Basis dieser Ungleichheit haben sie das Recht auf Differenz und verdienen differente Rechte.

Während das Universalitätsprinzip des Christentums von ebenbildlicher Egalität aller Menschen ausgeht und die Distanz zwischen dem Eigenen und dem Anderen aufhebt, schlägt der Islam den entgegengesetzten Weg ein: da die Menschen nicht gleich sind, kann ihnen ihre Andersheit anerkannt werden. Jedoch sind die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen nicht fließend. Sie können es auch nicht sein, so daß die gesellschaftliche Differenz zu dem Anderen im Islam eine wesenhafte bleibt: es steht dem Menschen keineswegs zu, sie aufheben zu wollen.

Dagegen führt das christliche Konzept der Gottesebenbildlichkeit nicht nur zu unveräußerlichen Rechten, sondern kann, wie im Falle des kolonialen Christentums, auch schnell in ein Gefühl der Überlegenheit umschlagen. Es kann als Aufforderung dazu aufgefaßt werden kann, in Gottes Namen zu handeln und für alle verantwortlich zu sein. Im Islam hingegen hält das Postulat der ontologischen Differenz für ewig die Grenzen zwischen Individuen sowie Kulturen geschlossen: das Andere muß das ewig Andere bleiben. Dadurch besteht weder die Gefahr des vereinnahmenden Zerstörens noch die Hoffnung auf ein Verständnis jenseits der eigenen Grenzen.

Wo das christliche Europa auf der Suche nach der eigenen Identität das Andere dazu auserwählt hat, durch Distinktion und Übertragung sich selber zu verstehen, ist der historische Islam den entgegengesetzten Weg gegangen. Im selbstzufriedenen Besitz des eigenen Archimedischen Punkts hat er nie versucht, das feindliche Element des Fremden zu einem Supplement des Eigenen umzuformen, um sich aus dem Verhältnis dieser Symmetrie zu nähren. Somit maßte er sich nicht an, seine Entgegensetzungen als Teil seiner selbst zu proklamieren und sie als einen integrierten Teil von sich selbst kritikunfähig zu machen. Der Islam und seine verschiedensten kulturellen Formen versuchten nie – zumindest bis zu den neoislamistischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts –, alles auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es kam nicht darauf an, die Welt zu vereinheitlichen.

Die Geschichte und die Gegenwart des Abendlandes lassen sich so interpretieren, daß sich der europäisch-christliche Universalismus spätestens seit der Entdeckung Amerikas überall durchgesetzt und die Verschiedenheit des Anderen beseitigt hat. Erst später, nach der Beseitigung des Anderen, hat dieser Universalismus seine Grenzen geöffnet und sich relativieren lassen. Der Islam hingegen ging nie von dem Gleichheitsprinzip aus. Er konnte sich somit nie mit dem Anderen identifizieren, um es nach und nach unerkenntlich zu machen. Er hat sich bewußt darum bemüht, sich dem Anderen weder gleich- noch entgegenzustellen, sondern immer nur daneben. Der Islam ein unverrückbares Zentrum: somit ist es ihm nicht möglich, aus der Haut seiner geschlossenen Eigentümlichkeit herauszugehen und dem Anderen anders als in seiner ontologischen Superiorität zu begegnen. Das Außerhalb des Zentrums existiert nicht – deswegen kann der Islam nicht an seinen Rand gelangen und seine Grenzen öffnen. Das Zentrum bleibt das eigene Sein, und es wird in dieser Abgeschiedenheit gelebt.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß im Islam des zwölften Jahrhunderts das Tor der Gelehrsamkeit (ischtihad) für geschlossen erklärt wurde, um äußeren Infektionserscheinungen vorzubeugen und eine Dezentrierung abzuwehren. Dieser Konsens innerhalb der islamischen Welt blieb bis zum zum 19. Jahrhundert bindend. Man ging davon aus: Alles, was zu sagen war, war schon gesagt worden, und wovon man nicht sprechen konnte, darüber mußte man schweigen. Dies macht es heute dem Islam schwer, als jahrhundertelang geschützte Monade Türen und Fenster für neue Interpretationen zu öffnen. Und sicherlich ist es schwer, sich von den Schaukelstühlen heimisch gewordener Identitäten abzustoßen und sich in die Unsicherheit einer Identitätssuche jenseits von Überlegenheit und Unterlegenheit zu begeben. Zumal, wenn man meint, die Suche beendet zu haben.

Während die europäische Tradition das Fremde also in Opposition zu sich zwingt, um es systemintern zu machen, verweist die islamische Tradition das Andere ohne Hoffnung auf Transversalität in seine insularen Grenzen. Ich spreche von islamischer Traditon, weil es „den“ Islam als eine geschlossene, essentialistische und unveränderbare Einheit natürlich nicht gibt – auch wenn jeder Muslim „seinen“ Islam als eindeutig definiert.

Daher wäre es eine politische Aufgabe, die Grenzen der islamischen wie der christlichen und anderer Kulturen zu hinterfragen, um sie gegenseitig durchlässiger zu machen – statt wie Huntington auf ihren Zusammenprall zu warten. Die verschiedenen Islame (El-Azmeh) haben sich bis zum 19. Jahrhundert nicht über das Andere definiert und haben sich selbst als authentisch betrachtet. Trotzdem übernahmen sie sowohl als Erbe als auch als Einfluß mehr von Europa, als sie zugeben wollen. Sicherlich gilt dies auch für Europa, das am liebsten auf sein islamisches Erbe verzichten würde.

Mit anderen Worten würde dies nichts anderes bedeuten, als zu hinterfragen, was jenseits der Grenzen des Eigenen ist. Damit würde man hervorheben, daß dieses Äußere zur Konstitutionsbewegung des Inneren gehört und somit beide untrennbar sind. Dies wäre vielleicht der erste Schritt zur Durchlässigkeit zwischen sich universell verstehenden Kulturen. Denn jeder Universalitätsanspruch bedarf der Nichtbeachtung eines Äußeren, um auf seine Universalität zu pochen. Man muß auf der „Schnittmenge“ der Kulturen bestehen. Nicht nur um ihre Kontingenz herbeizuführen, sondern um sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie nur dank des radikal Anderen ihre eigenen Grenzen stärken können. Daher wäre ein Sichbekennen zu einer Transkulturalität (Welsch) nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig. Nur sie kann über die Grenzen hinaus verweisen.

Dies hieße sowohl, daß der Islam sich seine Grenzen erweitern bzw. öffnen muß, als auch daß Europa es anstreben müßte, seine Werte in den Kontext seiner eigenen Geschichte zu setzen und seinen Universalismus zu hinterfragen. Dies würde sowohl dem Eigenen den Stachel der Authentizität als auch dem Anderen den Stachel der Radikalität nehmen und sie jenseits von totaler Identifikation und totaler Differenz in einem Netzwerk zusammenführen. Dies ist leichter gesagt als getan. Dennoch: es ist für einen Dialog der Kulturen die einzige Alternative.

Julia Kristeva: „Fremde sind wir uns selbst“. Frankfurt/M. 1990

Axel Honneth: „Universalismus als moralissche Falle?“, in: Merkur, H. 9/10, Sept./Okt. 1994, S. 869-883

Bassam Tibi: „Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte“. München 1994

Tzevan Todorov: „Die Eroberung Amerikas – das Problem des Anderen“. Frankfurt/M. 1985

Wolfgang Welsch: „Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft“. Frankfurt/M. 1995

Aziz Al-Azmeh: „Die Islamisierung des Islams“. Frankfurt/M. 1996