: Wechsel in Warschau
Nach den Wahlen in Polen liegt die Wahlaktion Solidarność in Führung. Sie ist aber auf Koalitionspartner angewiesen ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
Gestern morgen um sieben Uhr lief bereits die Hymne der Gewerkschaft Solidarność im polnischen Radio, der Refrain zum Mitsingen: „Solidarność– wir kämpfen für das Recht, Solidarność – wir arbeiten für das Brot, Solidarność – gemeinsam sind wir stark.“ Schon am Sonntag abend hatten die ersten Hochrechnungen einen so eindeutigen Sieg der Wahlaktion Solidarność ergeben, daß der Machtwechsel in Polen sicher erscheint. Die endgültigen Ergebnisse werden frühestens für Mittwoch erwartet.
Den Hochrechnungen von gestern morgen zufolge stimmten 33,8 Prozent der Wähler für die erst seit einem guten Jahr existierende rechtsgerichtete Wahlaktion Solidarność (AWS). Der Hauptgrund für diesen Erfolg ist, daß Solidarność diesmal ihr Wählerpotential im Vergleich zu den letzten Wahlen 1993 voll ausschöpfen konnte. Die AWS knüpft an die Tradition der berühmten Gewerkschaft an, die 1989 mit dem Arbeiterführer Lech Walesa an der Spitze den friedlichen Regimewechsel in Polen erkämpfte. In den frühen 90er Jahren zerfiel sie in kleine Gruppen, die 1993 miteinander konkurrierten. Viele dieser Gruppierungen scheiterten an der Fünfprozenthürde. Nach der damaligen Wahlniederlage gelang es AWS-Chef Marian Krzwaklewski, über drei Dutzend kleine und mittlere konservative Gruppen und Parteien unter ein Dach zu bringen. Diese Strategie hat sich nun ausgezahlt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die AWS um die 200 Sitze im polnischen Abgeordnetenhaus, dem Sejm, einnehmen.
Mit 26,8 Prozent liegt das Demokratische Linksbündnis (SLD) an zweiter Stelle. Das Parteienbündnis war 1991 aus der kommunistischen Arbeiterpartei und einigen Blockparteien hervorgegangen und 1993 bereits wieder an die Macht zurückgekehrt. Gemeinsam mit der Bauernpartei (PSI) stellt sie bis heute die Regierung. Obwohl sie ihr Wahlergebnis von 1993 verbessern und weitere Wähler hinzugewinnen konnte, verlor die SLD im Sejm Sitze an die AWS. Statt bisher 169 Abgeorndete dürfte sie künftig nur noch zwischen 150 und 155 stellen.
Wie die Umfragen und Prognosen voraussagten, ist weder die AWS noch die SLD in der Lage, alleine die Regierung zu stellen. Der für beide Parteienbündnisse interessanteste Koalitionspartner ist die Freiheitsunion (UW). Sie ist mit 15,9 Prozent der Überraschungssieger des Tages und eindeutig die neue „dritte Kraft“, ohne die im Sejm kaum noch ein Gesetz verabschiedet werden kann. Die Partei, die aus dem Intellektuellenflügel der Gewerkschaft Solidarność hervorgegangen ist, kommt auf rund 70 bis 75 Sitze im Sejm.
Ein geradezu katastrophales Ergebnis hat die Bauernpartei (PSL), der bisherige Koalitionspartner der SLD, eingefahren: gerade mal 6,7 Prozent. Die seltsame Politik der letzten Wochen, sich innerhalb der Regierung als Opposition zu profilieren und gegen den eigenen Ministerpräsidenten einen Mißtrauensantrag zu stellen, hat das Vertrauen der Wähler in diese Partei nachhaltig erschüttert. Die bisherige Regierungspartei verliert über 100 Mandate und kommt gerade noch auf 17 Sitze.
Kaum Chancen hatten radikalere Parteien. So kam die nationalkonservative Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP) auf gerade 5,5 Prozent der Stimmen und damit 6 Sitze im Sejm. Die linke Union der Arbeit mit ihrem ausgeprägten Antiklerikalismus errang den Hochrechnungen zufolge fünf Prozent und damit fünf Sitze. Weitere vier von den insgesamt zehn landesweit angetretenen Parteien konnten die Fünfprozenthürde nicht überspringen.
Adam Michnik, Herausgeber der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyboreza, prognostizierte in seinem Kommentar, daß eine Koalition von AWS und UW die bisherige Regierung von SLD und PSL ablösen werde. Doch noch könne Polen nicht aufatmen. Die Wahlaktion Solidarność sei eine große Unbekannte mit vielen Gesichtern. Noch sei nicht sicher, welche Richtung innerhalb der AWS die Oberhand gewinnen und welcher Krzaklewski sich als der wahre erweisen werde: der, der einen klugen Artikel im Wall Street Journal veröffentlichte, oder der, der die Abgeordneten, die die neue Verfassung Polens ausgearbeitet haben, „Schacherer und Bolschewiki“ nenne. Wichtig sei, so schreibt Michnik weiter, daß die Wahlen in Polen „acht Jahre nach der großen Wende ruhig und ohne Streit verlaufen“ seien: „Polen hat das Examen im Fach Demokratie bestanden.“
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