: Seelenflirren und Sklaverei
Zwischen Yoknapatawpha und Tallahatchie: Die Entstehung des modernistischen Romans aus dem Geist der Südstaaten. Heute vor hundert Jahren wurde William Faulkner geboren ■ Von Thomas Krüger
Yoknapatawpha County im Norden des Staates Mississippi. Die südliche Grenze bildet der namengebende Fluß: „Wasser, das langsam über die Ebene fließt.“ Im Norden ein zweiter Grenzfluß, der Tallahatchie, und dazwischen Pinienhügel, die Plantagen der Greniers, der Sutpens, der Compsons, der Sartoris, der McCaslins. Straßen und Eisenbahnlinie orientieren sich an der vieldeutigen Form des Landvermessungskreuzes, und im Schnittpunkt liegt das Gerichtsgebäude der Bezirksstadt mit dem Namen Jefferson. Erinnert er an US-Präsident Thomas Jefferson, Liberaler und Verfasser des berühmten: „Wir halten diese Rechte für unveräußerlich...“? Oder an Jefferson Davis, Präsident der konföderierten Sklavenhalterstaaten des Sezessionskrieges?
Ein County im tiefen Süden der USA. Rund 15.000 Einwohner, davon zwei Drittel Schwarze. Eine Gesellschaft, deren Uhren spätestens seit dem 4. Juli 1863, dem Unabhängigkeitstag nach Gettysburg und dem Verlust von Vicksburg, anders gehen, dual sozusagen, mit der Vergangenheit recht eigenwillig und unwillig im Schlepptau der Gegenwart. Die Südstaatler leben nicht in der Vergangenheit, so heißt es bei Robert Penn Warren, „die Vergangenheit lebt in ihnen“, und William Faulkner hielt eine ähnliche Auffassung für unveräußerlich: „Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist noch nicht einmal vergangen.“
Mit einem Fingerzeig hätte Faulkner hinter dem Schauplatz von 15 seiner 20 Romane das reale Lafayette County im realen Bundesstaat Mississippi hervortreten lassen können, wo er fast sein gesamtes Leben verbrachte. Sherwood Anderson riet ihm während eines Treffens 1925 in New Orleans, über die Gegend und die Menschen zu schreiben, die er kenne. Bei Faulkner, der seine Fühler schon in die symbolistische Dichtung ausgestreckt hatte und sich zeitlebens als gescheiterten Dichter betrachtete, führt dies zu jener Mischung aus Realismus und fiebriger Südstaatengotik, die aus dem Klima traumatischer Geschichtserfahrung, verklemmter Nostalgie und Rassenwahn den modernistischen Roman des Seelendramas schafft.
Im Alter von 11 Jahren wurde er Zeuge eines brutalen Aktes von Lynchjustiz. Der Schwarze Nelse Patton, des Mordes an einer weißen Frau beschuldigt, wurde von einer aufgebrachten Menge aus dem Gefängnis geholt. Er wurde erschossen, kastriert, man zertrümmerte seinen Kopf, dann legte man dem nackten Toten einen Strick um den Hals, zog ihn hinter einem Auto auf den Marktplatz der Stadt und hängte ihn „zur Abschreckung“ auf. Später entscheidet das Gericht in einem bigotten Akt der Wahrheitsfindung, daß Patton durch Schußwunden zu Tode kam. Täter unbekannt.
In Faulkners Romanen erscheint die Verstrickung in eine Geschichte von Ausbeutung gekoppelt mit dem Niedergang der selbstherrlichen Pflanzerfamilien und ihrer seelischen Zerstörung. Die Perspektiven münden immer wieder in der debilen Verstummung des inzestuös weitergereichten Geschichtsverständnisses. Faulkner schwingt sich niemals zu einer Moralinstanz auf, und das bringt ihm den Vorwurf des Ausweichens ein. Aber seine scheinbare Affirmation des Verdrängens ist Grundlage des Willens zur Authentizität. Seine stärksten Charaktere sind Schwarze: Lucas Beauchamp in „Go Down, Moses“ oder Dilsey, die Haushälterin der Compsons in „The Sound and the Fury“. Das Verhältnis zum Süden kann nicht gedacht werden ohne die Erkenntnis, daß der Süden Teil der Persönlichkeit ist, der Schizophrenie: „,Weshalb haßt du den Süden? – Ich hasse ihn nicht‘, sagte Quentin,,ich hasse ihn nicht‘, sagte er. ,Ich hasse ihn nicht‘, dachte er, keuchend in der kalten Luft, der eisernen Dunkelheit Neuenglands: ,Nein. Nein! Ich hasse ihn nicht! Ich hasse ihn nicht!‘“
Die mikrokosmische Auseinandersetzung mit der Heimatwelt als Seele und Stimmengewirr beginnt 1929 mit dem Roman „Sartoris“, und schon mit dem Nachfolger, „The Sound and the Fury“, legt Faulkner eines der Werke vor, die ihm die Literaturkritik als seine größten anrechnet. Aus vier verschiedenen Perspektiven betrachtet er den Niedergang der Familie Compson. Es sind Stück für Stück wie Puzzleteile ineinandergeworfene Szenen einer disintegrativen Kraft, die den menschlichen Willen verspotten, aber nicht entwürdigen kann. Was letztlich bleibt, ist die Vergangenheit in der sensuellen Blöße, wie sie der dreiunddreißigjährige Benjamin erlebt. Er ist geistig zurückgeblieben auf dem Niveau eines Dreijährigen; aber ihm, der nichts versteht, ist alles gegenwärtig.
In „As I Lay Dying“ wird der Bewußtseinsstrom auf 15 verschiedene Sprecher verteilt und bildet die tragikomische Geschichte einer Leichenprozession. Addie Bundren will „bei ihren Leuten“ in Jefferson begraben werden, und nach ihrem Tod macht sich die Familie mit der verrottenden Leiche im Sarg auf den Weg gegen die makabre Gewalt von Natur und Verhängnis. Mit jedem seiner Romane versucht Faulkner, die Vergangenheit in die Hand zu nehmen wie ein bekanntes Objekt, das sich von Blickwinkel zu Blickwinkel in neuem Licht zeigt. „Absalom, Absalom!“ bringt mit dieser Technik vielleicht am deutlichsten die Tragik der Südstaaten zum Ausdruck: Ein Traum, gekleidet in die bunten und verführerischen Töne von Ritterlichkeit, aber verwurzelt in den Verbrechen von Enteignung und Sklaverei. Das Erbe ist eine bankrotte Wirtschaft, barbarischer Rassismus, Apathie im Wechsel mit Grausamkeit, ein nostalgisches Gefühl der verlorenen Ehre, Intellektuellenhaß und eine leidenschaftliche Liebe zum Erzählen.
Die Stadt Jefferson heißt in Wirklichkeit Oxford und gibt sich schon seit Monaten geschäftig wie ein Bienenstock. Bereits im Vorfeld der Jahrhundertfeier gab es Ärger zwischen den Stadtoberen, die den großen Sohn mit einer Statue ehren wollen, und den Nachkommen des Nobelpreisträgers, die seinen Wunsch nach Privatheit verletzt sehen. (Ein verspäteter Rat an alle Lady Dis dieser Welt: Faulkner nahm die Auffahrt zu seinem Farmhaus unter den Pflug – um Reportern den Zugang zu erschweren).
Nun rührt sich die Provinzstadt, als sei die Ruhe seit dem Tod ihres Lebensspenders einen Moment lang vergessen und die Hand des Marionettenspielers wieder in Bewegung. Sogar der Gewinner des Parodiewettbewerbs „Faux Faulkner Contest“ hat eine Aufwertung erfahren; denn die Bourbonbrennerei „Jack Daniels“ entschloß sich im letzten Jahr, den Wettbewerb zu sponsern und damit ihren berühmtesten Fall von Leberzirrhose inoffiziell einzugestehen. Immerhin konnte die Edelmarke wohl entscheidend dazu beitragen, Faulkners Leben auf kompakte 65 Jahre zu reduzieren und den Feierlichkeiten die für Jubiläen notwendige historische Schwere zu verleihen.
Ohne Faulkner jedenfalls wäre der postmoderne amerikanische Roman nicht möglich. Pynchons Wendung nach außen, in ein Erzählen aus der phantastischen Komplexität von Systemen der Verschwörung, ist einerseits Huldigung an Faulkner, aber auch Kapitulation vor der Unmöglichkeit, den Standard in der Darstellung von Innenwelten noch zu übertreffen. Faulkner ist – noch immer – Schulungsstoff für zukünftige Literaten, aber im öffentlichen Interesse steht er zunehmend als Seminargröße, als Oberstufenautor, den man allenfalls mit der Hilfe von Erläuterungen ertragen kann. Das allerdings erinnert in gewisser Verfremdung an die existentielle Sinnfindung, wie sie Addie Bundren in „As I Lay Dying“ entwirft: „Der Sinn des Lebens ist es, sich darauf vorzubereiten, eine lange Zeit lang tot zu sein.“
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