: Die Heilsfront streckt die Waffen
In Algerien hat der bewaffnete Arm der verbotenen Islamischen Heilsfront einen Waffenstillstand verkündet. Die Verantwortlichen für die jüngsten Massaker sollen isoliert werden ■ Von Reiner Wandler
Berlin (taz) – Die Armee des Islamischen Heils (AIS), der bewaffnete Arm der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS), hat gestern einen einseitigen Waffenstillstand verkündet. In dem zweiseitigen Dokument, das sowohl die privaten algerischen Tageszeitungen als auch der staatliche Rundfunk ausführlich zitierten, befiehlt AIS- Chef Madani Merzag seinen Guerillagruppen, „ab 1. Oktober alle Kampfhandlungen einzustellen“ und fordert „alle der Religion und der Nation verbundenen Kräfte auf, sich diesem Aufruf anzuschließen“. Der Waffenstillstand habe zum Ziel, „den Feind zu entlarven, der sich hinter den abscheulichen Massakern versteckt“, und „die perversen Extremisten der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) zu isolieren.“
Die AIS, die sich, ebenso wie die Auslandsleitung der FIS, immer wieder von den Massakern an der Zivilbevölkerung distanziert, wurde im Juni 1994 gegründet. In ihr fanden sich viele der bewaffneten Gruppen zusammen, die nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen 1992 durch das Militär und dem Verbot der siegreichen FIS in der Berge gingen, um die Putschgeneräle mit Waffengewalt zu bekämpfen. Die AIS, die nach eigenen Angaben über rund 10.000 Mann verfügt, ist seither hauptsächlich im Osten und im Westen Algeriens aktiv, wo sie immer wieder Militär- und Polizeikräfte in Feuergefechte verwickelt.
Die Kontrolle über das Zentrum des Landes, rund um die Hauptstadt Algier, verlor die FIS an die wesentlich radikaleren GIA. Allein in den letzten vier Wochen wurden dort 1.000 Menschen getötet, die letzten 200 fielen am Dienstag einem Überfall zum Opfer. Die meisten Dörfer in diesem sogenannten „Todesdreieck“ zwischen Algier und den Atlasausläufern hatten einst islamistisch gewählt – und so beschuldigt die AIS die GIA, von den Geheimdiensten unterwandert zu sein.
Obwohl seit der Freilassung des historischen FIS-Führers Abassi Madani am 15. Juli immer wieder über mögliche Gesprächskontakte zwischen dem Militärregime unter Staatspräsident Liamine Zéroual und der AIS spekuliert wurde, kam der Waffenstillstand für die algerische Opposition überraschend.
Während die regierungsnahe Tageszeitung El Moudjahid den AIS-Appell in ihrer gestrigen Ausgabe als „wichtigen Wendepunkt“ bezeichnete, wollten die Sprecher der demokratischen Parteien keine Stellungnahmen abgeben. Sie stehen ratlos vor der näheren Zukunft. Kommt es zu einem undurchsichtigen Deal wie im Sudan, wo sich Islamisten und Armee die Macht teilen und die Demokraten seither nur noch wenig zu melden haben? Oder wird der harte Flügel der Militärs, die von einer „radikalen Ausmerzung aller Islamisten“ träumen, gar die verhandlungsbereiten Teile der Armee um Präsident Zéroual entmachten?
Angesichts dieser Unsicherheit sollen die ersten Oppositionsführer bereits die Koffer gepackt haben, um im vorübergehenden sicheren Exil die weitere Entwicklung der Lage abzuwarten, so verlautet es hinter vorgehaltener Hand.
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