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Zwangssterilisationen

■ betr.: „,Aufartung‘ durch Ausmer zung“, taz vom 16.9. 97

Es ist erfreulich und beruhigend, daß wir in einer Situation, wo plötzlich – nach jahrzehntenlangem Schweigen – hektisch und europaweit das Thema Zwangssterilisierung zur lange fälligen Debatte kommt, in Stefan Kühl einen differenzierten und umsichtigen Betrachter unter uns haben. Seine jahrelangen Bemühungen machen sich nun bezahlt. [...] Er nennt die Ursachen beim Namen, befreit uns von der Blindheit, die alle Zwangssterilisierung nur als ferne „Nazi- Vergangenheit“ kleinreden wollte und erkennt auch schon klarsichtig die Gefahr, daß die Öffentlichkeit auch jetzt wieder „das Thema Eugenik (nur) als geschichtliches Ereignis begreift und schnell zu den Akten legt“. Pränatale Diagnostik, humangenetische Beratung, Bevölkerungspolitik werden sich jetzt einer grundlegenden Debatte stellen müssen. Aber sie werden wohl alles daran setzen, Stefan Kühls abschließende Warnung zu bestätigen. Der Kommentator von Torbjörn Tännsjö („Ehrenwerte Fürsorge“) liefert dazu schon die vermittelnden Ansätze.

Gerade deshalb ist es wichtig, danach zu fragen, wo eigentlich in all diesen Jahrzehnten der Widerstand gegen Zwangssterilisierung herkam. [...] Die Widerständigen sind für die letzten 20 Jahre schnell benannt: Behindertenbewegung, Teile der Frauenbewegung, GenEthik-KritikerInnen, kritische Medizin-HistorikerInnen, Menschenrechts-AktivistInnen, hartnäckige Rechtsstaats-Gläubige, Individual-AnarchistInnen allemal, Nachdenklichkeit unter vielen Kirchenleuten. Vieles ist da aufzuzählen. Und genau dieselben Gruppen und Zirkel sind in fast allen anderen Debattenfeldern sofort wieder extrem gespalten (Stichwort: Abtreibung). Wie lange wird das Bündnis der KritikerInnen überstehen? Wie lange die erste moralische Empörung anhalten? Haben nicht auch wir in der Bundesrepublik ein „neues“ Sterilisationsgesetz? Wer spricht davon? Hat nicht der „Arbeitskreis zur Erforschung der sogenannten ,Euthanasie‘ und Zwangssterilisation“ (Klaus Dörner, Michael Wunder etc. etc.) mehrfach vor diesem Gesetz gewarnt, dagegen protestiert, Resolutionen und Erklärungen publiziert? Haben wir sie beachtet?

Wo aber war der Widerstand gegen die Zwangssterilisation in dem halben Jahrhundert von 1920 bis 1970? Hier wird sich schnell eine Schwäche von Kühls Argumentation herausstellen. Er nennt die Länder und Kontinente, in denen zwangssterilisiert wurde, aber er fragt nicht, warum dies anderswo nicht geschah. Mit Ausnahme von Österreich, Frankreich und Südamerika, alle an der Peripherie der Zwangssterilisations- Staaten, handelt es sich entweder um mehrheitlich protestantische Länder oder die süd-/ost-asiatischen Kulturen, wobei Kühl die baltischen Länder Estland und Lettland im Unterschied zu seinem Buch von 1997 leider vergißt. „Eugenik und Rassenhygiene beeinflußten die Politik von Sozialdemokraten und Kommunisten genauso wie die von Nationalsozialisten, Liberalen und Konservativen.“ (St. Kühl) Taten sie das wirklich? Unterschiedslos? Waren nicht die katholische Zentrumspartei in Deutschland bis 1933, die Labour Party und die katholische Kirche in England für das Scheitern der Sterilisationsgesetz-Initiativen verantwortlich? Wie verhielt und verhält es sich mit dem katholischen Südamerika, Süd- und Osteuropa, der griechisch-orthodoxen, islamischen Welt?

Linksliberale Freimaurer für die „Eugenesia“ – der katholische schwarze Block dagegen: das ist die grobe Struktur der Streitparteien in Südamerika, Spanien, Italien – und Frankreich, Österreich. Da werden die Apologeten der Zwangssterilisationen, die Propagandisten von Pränataldiagnostik, Humangenetik und Bevölkerungspolitik sofort einzusetzen versuchen: „Alle KritikerInnen sind letztlich nur katholisch-islamisch- feministisch-linke FundamentalistInnen, oder sie wissen es nur noch nicht – um so schlimmer!“ Es wäre fatal, über solchen Unsinn stillschweigend zu lächeln. Der Unsinn wird geglaubt, entspricht gängigem Vorurteil. Wer in den USA oder hierzulande über NS- Medizin redet und die Bio-Ethik kritisiert, kann ein Lied davon singen. Der nächste Vorwurf kommt bestimmt: „Klerikale Heuchler! Sie vertreten nur ihre eigene Kirchenmoral als ,katholische Eugenik‘!“ Auch das stimmt. Die „katholische Eugenik“ war die laue Anpassung, der Schwachpunkt der kirchlichen Sterilisationskritiker während der NS-Zeit; z.B. Alexis Carrel: Der Mensch, das unbekannte Wesen (1935/36); von dem noch Oswalt Kolle den Titel seiner Sexual-Aufklärungs-Bücher klaute.

Aber um 1970 ist jene weltweit katholische Widerständigkeit gegen Zwangssterilisation (und Abtreibung) intellektuell zu ihrem Ende gekommen; die neuen technokratisch-religiösen AbtreibungsgegnerInnen definieren „ein Leben“ (Barbara Duden) heute genetisch-informationstheoretisch, sie sind selber Biologisten geworden. Und genau dies müssen wir wissen und analysieren, um uns nicht in der Kritik der Zwangssterilisationen in den nächsten Jahren auseinanderdividieren zu lassen. [...] Michael Hubenstorf, Institut

für Geschichte der Medizin

FU Berlin/IHPST,

University of Toronto

Nicht nur in Skandinavien gab es nach 1945 Zwangssterilisationen. In Deutschland war nach 1945 nur die freiwillige Sterilisation gesetzlich geregelt.

Ohne gesetzliche Grundlagen waren aber für Menschen mit geistigen Behinderungen in Deutschland unfreiwillige Sterilisationen gängige Praxis und wurden sogar von Fachliteratur und Einrichtungen (Schule, Wohnheim, Werkstatt, sogar Arbeitsamt) empfohlen. Nach Schätzungen des Bundesjustizministeriums wurden zwischen 1945 und 1990 jährlich etwa 1.000 Sterilisationen bei Menschen mit geistigen Behinderungen in Deutschland vorgenommen, die zum Teil minderjährig waren und häufig über den Eingriff nicht informiert waren oder keine Zustimmung gegeben hatten. Schätzungen der Lebenshilfe Hamburg besagen, daß 80 Prozent der Frauen mit geistigen Behinderungen nicht über ihre Sterilisation aufgeklärt worden seien.

Mit dem 1990 entworfenen und 1992 in Kraft getretenen neuen Betreuungsgesetz gibt es in Deutschland jetzt erstmals wieder eine gesetzliche Regelung der unfreiwilligen Sterilisation. Diese erlaubt Sterilisationen dann, wenn die betreffende Person „einwilligungsunfähig“ ist, keinen Widerstand zeigt und eine Schwangerschaft eine Gefahr für den Gesundheitszustand der Schwangeren darstellen würde. Dabei zählt zur Gefahr für die seelische Gesundheit auch eine eventuelle spätere Trennung vom Kind, die für Menschen mit geistigen Behinderungen wohl zum Normalfall gezählt werden kann. Eine Sterilisation ohne Zustimmung der Betroffenen ist also auch heute in Deutschland noch keineswegs ausgeschlossen. Jana Ehlers, Studentin

der Sonderpädagogik, Essen

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