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Die Stadtinsel

Sie ist eng. Eine Schlucht in Nord-Süd-Richtung. Sie zieht sich durch die Mitte der Stadt. Gerade, ohne Schörkel. Sie war die Straße der Bürger, Händler und Huren. Einst beherbergte sie die meisten Puffs und Varietés der Stadt, berühmte Einkaufspassagen und Restaurants. Heute reihen sich neumodische Büroblöcke und Kaufhäuser entlang der Achse, dazwischen alte Architekturen, Plattenbauten, Buden, Bombenlücken und ein Bahnhof.

„Eigentümlich jebrummt“, wie der Berliner sagt, hat es auf der „Friedrich“ immer: zu Kaisers Zeiten, in der Weimarer Republik, während der Jahre der Teilung und jetzt – etwas angestrengt – wieder. Der Corso der Mitte, die Insel im Stadtgrundriß, markiert etwas Besonderes. Das hat mit Magie zu tun und ihren scheinbar mythischen Orten im nördlichen Abschnitt: dem Bahnhof Friedrichstraße, der quer über der Achse liegt, dem Metropol-Theater, den verbliebenen Gründerzeitbauten, dem Berliner Ensemble, Friedrichstadtpalast und dem Deutschen Theater, in deren Schatten sich der „Tränenpalast“, schlüpfrige Gaststätten und Hotels mit exotischer Namensgebung („La Habana“) und der nahe Straßenstrich ducken.

Es ist, als ob die Uhren hier anders ticken; im Takt des Lebens, des Vergnügens und der Abschiedsszenen. Walter Benjamin, Franz Hessel oder der Dichter Ernst Blaß haben diesen künstlichen Rhythmus aus „Lokomotivenkeuchen“ und städtischer Mobilität als erste beschrieben. Der Bauhausdirektor Hannes Meyer zählte nicht die Bauten, sondern – sachlich – die Prostituierten: „137 Damen des horizontalen Gewerbes heute.“ Nutten, Loddels, Ganoven, Schupos, Reisende und Arbeiter waren die Protagonisten der Friedrichstraße.

Dieser Identität konnte auch der Mauerbau wenig anhaben. Hier trafen sich die Ost- und Westberliner mit Tagesvisium, hier baggerte man sich an um Geld, heimlichen Tausch und Gefühle, hier guckte sich die gespaltene Stadt in die Augen. Die Atmosphäre droht zu verblassen. Alles soll neu werden. Zwischen Checkpoint Charlie und Unter den Linden beginnt es schon zu glitzern. Das hat die Friedrichstraße nicht verdient. Rolf Lautenschläger

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