: Die Häftlinge mit den violettem Winkel
Die Sonderausstellung „Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erinnert ab Sonntag an die vergessenen Opfer der Nazis ■ Von Volker Stahl
In der Öffentlichkeit haben die Zeugen Jehovas keinen guten Ruf. Den meisten ist die Glaubensgemeinschaft höchstens vom ungebetenen Klingeln an der Wohnungstür oder dem Anpreisen ihrer publizistischen Zentralorgane „Wachtturm“und „Erwachet“in Fußgängerzonen bekannt. Daß sich diese christliche Minderheit den Nationalsozialisten bedingungslos wie kaum eine andere Gruppe verweigert hat, weiß dagegen kaum jemand.
Das strikte „Nein“zu Hitler-Gruß, Jungvolk und Kriegsdienst kostete über 1200 Gläubigen das Leben. Von den 25.000 Zeugen, die 1933 in Deutschland lebten, waren nahezu 10.000 unmittelbar Opfer des Nationalsozialismus durch Verlust des Arbeitsplatzes, der Rente oder der Verurteilung zu Geld- und Haftstrafen. Rund 6000 kamen in Gefängnisse und Konzentrationslager.
Auch die über 500 Seelen zählende Hamburger Gemeinde blieb von den Verfolgungsmaßnahmen nicht verschont: 328 erlitten Haftstrafen, 103 von ihnen mußten mehr als ein Jahr in Gefängnissen, Zuchthäusern und KZs verbringen, mindestens 14 wurden ermordet. „Keine andere Gruppe, mit Ausnahme der Juden, hatte so stark unter dem Nationalsozialismus zu leiden wie die Zeugen Jehovas“, sagt Dr. Detlef Garbe, Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die am Sonntag eine vierwöchige Ausstellung über das Leiden der „Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime“eröffnet.
Der Historiker muß es wissen. Er verfaßte 1989 seine Doktorarbeit über das Martyrium der „Ernsten Bibelforscher“. Unter dieser auch später noch gebräuchlichen Bezeichnung traten die Zeugen Jehovas bis 1931 in Erscheinung. Die Nazis hatten die widerspenstigen Glaubensbrüder und -schwestern schon kurze Zeit nach der sogenannten Machtergreifung Ende Januar 1933 im Visier. Sachsen, Bayern und andere Länder des Reiches sprachen bereits im April erste Verbote aus.
Ein im Juni gestarteter, etwas hilflos wirkender Appell an die deutschen Behörden verhallte ungehört. Der Hamburger Willi Pohl, heute Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft Deutschland, erinnert sich: „Wir legten dar, daß wir keinerlei politische Ziele hätten, daß wir rein religiös tätig wären, und daß deshalb diese Lage der teilweisen Verbote aufgehoben werden sollte.“Es half nichts. In der Hansestadt verkündete die Polizeibehörde am 15. Juli 1933 Verbot und Auflösung der Norddeutschen Bibelforscher-Vereinigung. Das Bücher- und Zeitschriftenlager wurde einkassiert. Dennoch trafen sich die Zeugen weiter heimlich, um in der Bibel zu lesen und illegal Glaubenspamphlete zu vervielfältigen.
Die Gestapo setzte ein Sonderkommando auf die Bibelforscher an. Detlef Garbe über das Ausmaß der Verfolgung: „Ab 1935 waren sehr viele Zeugen Jehovas in den nationalsozialistischen Gefängnissen und Lagern. In den KZs der Vorkriegszeit stellten sie, bezogen auf die Gesamtzahl der Inhaftierten, mit fünf bis zehn Prozent eine vergleichsweise große Gruppe.“
Am 14. und 15. März 1935 fand in Hamburg der erste große Prozeß gegen 30 führende Zeugen Jehovas statt. Die Angeklagten wurden zu Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verurteilt. Das Hanseatische Sondergericht befand in seinem Urteil, daß sie „durch ihre Lehre und Betätigung den Bestand des Staates gefährden und gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen“. Das Hamburger Tageblatt schrieb am 16. März über den Richterspruch: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns. Das heißt so ungefähr in der Bibel, und der Staatsanwalt und das Gericht handelten danach.“Das Urteil war aber nur ein bitterer Vorgeschmack auf das, was noch folgen sollte. Seit 1937 führte der Weg der Zeugen Jehovas, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, direkt in die Konzentrationslager.
Beispiel Neuengamme: Von den etwa 150 internierten Häftlingen, die den Bibelforschern zuzurechnen sind, hat nur ungefähr ein Drittel überlebt, weiß Garbe: „Bereits drei Monate nach Ankunft der ersten Zeugen Jehovas in Neuengamme ist von ihnen aufgrund der mörderischen Bedingungen beim Lageraufbau jeder Fünfte zugrunde gegangen.“In Konzentrationslagern wurden die Bibelforscher mit dem „violetten Winkel“als eigenständige Gruppe gekennzeichnet.
Eines der eindrucksvollsten literarischen Dokumente für die Drangsale, die die „Violetten“im KZ zu erleiden hatten, lieferte Eugen Kogon in seinem Buch „Der SS-Staat“: „Zu Kriegsbeginn wurden im KL Sachsenhausen die Bibelforscher aufgefordert, Wehrdienst zu leisten. Auf jede Weigerung hin wurden zehn aus ihren Reihen erschossen. Nach vierzig Opfern gab die SS auf.“
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