Heute bin ich ein Menschenfresser

■ Falten und fragile Brüche: Germaine Richiers Skulpturen in Berlins Akademie der Künste

Eine gewaltige Heuschrecke setzt zum Sprung durch die Akademie der Künste an. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, bilden Oberschenkel und Unterarme eine schräge Rampe, über die sich der lange Rücken vorwärtsschiebt. Die dicken Finger scheinen schon plattgedrückt vom Widerstand der Luft; angespitzt von lauernder Spannung fließen Kopf, Haarknoten und Nasen in schmalen Linien zusammen. Germaine Richiers Bronzeskulptur „La Sauterelle, grande“ entstand 1955: Die Brüste der Frauenfigur baumeln, die tiefen Einbuchtungen des Schlüsselbeins betonen den gestreckten Hals, griffig liegen die Schulterblätter an. Überall zeichnet sich die Anatomie des Zwitterwesens in den gespannten Oberflächen ab.

Richier attackierte den Raum: Wie kein anderer Bildhauer wußte die französische Künstlerin Spannungsverhältnisse zwischen innen und außen, differenzierte Richtungs- und Perspektivwechsel in die Figur mit hineinzunehmen. Dieser Ausdruck von Dynamik hatte bis dahin allein als Gegenstand einer abstrakt konstruktiven Formensprache gegolten, die sich auf eine technikgestützte Modernisierung der Welt bezog. Der menschliche Körper schien in seiner Geschlossenheit und Ortsgebundenheit kein Austragungsort dafür. Richier dagegen riß seine Hülle auf, zerklüftete die Leibesfülle ihrer Riesen „Sturm“ und „Orkanin“, höhlte den Bauch des „Gebirges“ wie einen Kessel aus und zerfetzte die Haut des Fledermausmenschen, bis das geschlossene Volumen des Körpers in eine vielfach bewegte Oberfläche aufgelöst war – jeder Quadratzentimeter Körper der Kommunikation zwischen innen und außen geöffnet. Drähte, die um die Figur gespannt sind, dramatisieren die in ihr angelegten Spannungen.

Woher sie das nur hat? Noch immer ist man bei der Betrachtung der Figuren ratlos, wie es zu dem singulären Auftritt ihrer Zwitterwesen in der Nachkriegszeit kam. Denn als Surrealisten, Kubisten und Konstruktivisten in den dreißiger Jahren an neuen Wahrnehmungsmodellen bastelten, war die Provenzalin noch mit Büsten, Akten und Formanalysen beschäftigt. Daß sie an diesem traditionellen Gegenstand aber schon einen anderen Entwurf des Körperlichen, der das Innerste nach außen stülpt, vorbereitete, läßt die jetzige Retrospektive sehen. Auch ihre Akte zeigen eine warme, vertraute Körperlichkeit, die in einer erdigen Schwere jenseits von klassischen Idealisierungen, pathetischen Überhöhungen und sentimentalen Verklärungen wurzelt.

In den 50er Jahren mit Ausstellungen in Paris, New York und Einladungen zu Biennale und documenta beachtet und geehrt, fand die Bildhauerin zwar ihren Platz in Kunstgeschichten und Museen; trotzdem geriet sie nach ihrem Tod mit 57 Jahren (1959) fast in Vergessenheit. Das lag zum einen daran, daß ihre Verfremdung oft als Verstümmelung gelesen und eng auf die Katastrophenerfahrung des Krieges bezogen wurde: Nichts als den Schmerz eines für immer zerstörten Menschenbildes sah man in den aufgerissenen Gliedmaßen. Ihre Insektenmenschen schienen direkt aus der Asche der Verbrennungsöfen gekrochen. Zum anderen bot ihr Werk der aufkommenden Polarisierung zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion keinerlei Nahrung.

Doch die Falten und fragilen Brüche, die man lange als Zeugnis von Zerstörung und Gewalt sah, öffneten die Skulpturen dem Thema Zeit und Veränderbarkeit. Der sichtbare Zustand der Fabelwesen wird zum unabgeschlossenen Durchgangsstadium mit der Potenz zu weiteren Wandlungen. Ungeschlacht und rauh erzählen sie zugleich von ihrem eigenen Werden unter den kräftigen, ungeduldigen Händen der Bildhauerin.

Richiers künstlerische Innovationen wurden gerne als weibliches Gebären umschrieben, ihre gespenstischen Zwitterwesen in den Mythen der Provence wiedergefunden. Doch letztlich bleiben die Skulpturen in ihren körperlichen Schwachheiten – wie dem Schwanken des dickbäuchigen „L'Ogre“ (Menschenfresser) auf seinen dünnen Beinen oder im zögerlichen Flügelschlag des „L'Homme de la Nuit“ – als Menschen erkennbar, die das Wilde und Ungezähmte als Projektionsfläche brauchen, um es mit sich selbst auszuhalten. Katrin Bettina Müller

Bis 2. November, Akademie der Künste, Berlin. Katalog: 50 DM