■ Jon Vickers ist einer der größten Tenöre dieses Jahrhunderts. Weil der Kanadier sich nicht dem Entertainment opfern wollte, ist er Außenseiter geblieben. Am 29. Oktober wird er 71 Jahre alt. Ein Portrait von Frank Siebert
: Der sich den Tenorrudeln verweigerte

Versnobten Opernfans, die den einzigen Sinn des Gesangs im seelisch streichelnden, glatten Wohlklang erblicken und ansonsten nicht weiter durch die Musik gestört sein wollen, ist Jon Vickers kaum der Rede wert. Dieser Tenor paßt nicht zu denen, die im Theater ihre Designerklamotten ausführen oder ihre einfallslos schale Champagnerparty mit Opernhits klanglich zu nobilitieren versuchen. Wer Oper nicht nur als bürgerliches Spektakel begreift, sondern als komplexes Drama der Gefühle, wird in den Aufnahmen des gebürtigen Kanadiers ein heilsames Korrektiv zum amüsiergierigen Kulturbetrieb finden.

Einst war er einer der großen Akteure im musikdramatischen Geflecht der besonders großen Leidenschaften: der Tenor. Ob als tragischer Held, als jugendlicher Liebhaber oder als eifersüchtiger Rasender – mit seinem Gesang begehrte er gleichzeitig gegen die Rivalen auf und klagte sein Recht auf Gefühle ein. Mit dem hohen C verlieh er selbst noch im Untergang seinem Schicksal die Note des Triumphes.

Heute hat er sich längst von den gestalterischen Anforderungen der Oper suspendiert – spätestens wenn er zur Berühmtheit, also auch zum Star der Popbühne aufgestiegen ist – und ist zur billigen Attrappe musikalischen Sinns verkommen. Für den Tenorstar ist die Oper – gleichgültig, ob er in New York, Salzburg oder Bayreuth auftritt – eine Riesenshow, eine austauschbare Folie („Was ist heut noch mal dran? Otello oder Parsifal?“), vor der er selbstgerecht sein Klangmaterial präsentiert.

Für ihn ist Oper bereits zur Seifenoper geworden. Das Publikum jubelt ihm zu und gibt damit seinem Erfolgsrezept recht. Er gibt den Massen das, was sie erwarten: Erfahrungslosigkeit, verpackt in einen konfektionierten, weltweit identisch dechiffrierbaren Einheitsstil von konturenloser Emotionalität, die behaglich goutiert werden kann. Und wenn Placido Domingo, Luciano Pavarotti nebst José Carreras – Die Großen Drei – als Tenorrudel durch die Lande tingeln, dann ist die Oper vollends auf den Hund gekommen.

Einer, der sich nie in der Pose des selbstverliebten Tenors auf der Bühne prostituiert hat, ist der am 29. Oktober 1926 im kanadischen Prince Albert geborene Jon Vickers. Sein Singen vermittelt, wie der Opernkritiker Jürgen Kesting schreibt, „weniger schöne Erlebnisse als schmerzliche Erfahrungen“ und steht quer zu einem Kulturbetrieb, der den Reichtum künstlerischen Ausdrucks auf ein leicht konsumierbares Mittelmaß zu reduzieren droht.

Begonnen hat Vickers' internationale Karriere 1957 am Königlichen Opernhaus Covent Garden in London, wo er in der teuflisch schweren Partie des Aeneas in den „Trojanern“ von Hector Berlioz einen aufsehenerregenden Erfolg feierte. Ein Jahr später debütierte er in Bayreuth als Siegmund in der „Walküre“ und sang im amerikanischen Dallas an der Seite Maria Callas' in Luigi Cherubinis „Medea“.

Der Live-Mitschnitt zeigt Vickers als gesangsdramatisch absolut gleichwertigen Partner der griechischen Diva und läßt erahnen, wie die beiden Künstler die Bühne in einen Schauplatz verwandelten, auf dem sie einen erbitterten, archaisch anmutenden Geschlechterkampf austrugen.

Seit den sechziger Jahren gastierte Vickers in nahezu allen führenden Opernmetropolen der Welt und avancierte in wenigen Jahren mit seinen Glanzpartien – als Otello, als Florestan in Beethovens „Fidelio“ oder Wagners Siegmund – zum führenden Heldentenor. Zwar ist Vickers' Stimme, wie der Literaturwissenschaftler Jens Malte Fischer schreibt, „von schier unerschöpflichem Volumen, wohl die größte Stimme seines Faches, die es nach dem Krieg gegeben hat“. Dennoch hat er sich gegen eine Spezialisierung immer gewehrt und seine Aufgaben nicht nur im Heldentenorfach gesehen.

Ein Arien-Recital, das kürzlich auf CD wiederveröffentlicht wurde, zeigt den Kanadier als differenziert gestaltenden Künstler in Opern, mit denen er gemeinhin nicht identifiziert wird („Tosca“, „Andrea Chenier“, „La Gioconda“, „Der Bajazzo“). Daß er die meisten Partien dieser Produktion auch auf der Bühne verkörpert hat, ist hierzulande wenig bekannt.

In Deutschland wurde er fast ausschließlich als Heldentenor wahrgenommen. Hierzulande bekam Vickers nur wenig Gelegenheit, seine ganze Kunst zu zeigen. 1975 äußerte er in der Zeitschrift Opernwelt: „Ich würde nach wie vor sehr gerne in Deutschland singen, nur hat man mich bisher fast nie eingeladen.“

Obwohl seine hünenhafte Gestalt aufs trefflichste mit den Klangmassen seiner Stimme korrespondierte, er eigentlich ein Idealtypus Wagnerscher Tenorpartien war, hat Vickers nach seinem Siegmund- Debüt nur noch einmal – 1964 – in Bayreuth den „Parzival“ gesungen. Offensichtlich harmonierte sein Singen nicht mit dem Heldenkonzept des oberfränkischen Spektakels.

Vickers' Darstellung des Tristan etwa auf der Einspielung mit Herbert von Karajan ist die eines Antihelden. Nicht große Klangwogen machen seine Darstellung zum Ereignis, sondern die verstörenden Aspekte, namentlich die Fieberphantasien der Tristan-Figur im 3. Akt, die durch den Sänger bis ins Pathologische gesteigert werden. Vickers' baritonal gefärbter Tenor ist von rauher Klangtextur.

Auffallend ist die nicht immer akzentfreie Aussprache – egal ob im Deutschen, Französischen oder Italienischen. Vokale bildete er oft sehr breit, wodurch die Melodie sehr plastisch hervortritt, dank eines perfekten Legatos aber nie auseinanderfällt. Der Höhe, so beeindruckend sie auch ist, fehlt es an der tonlichen Konzentration, um hohe Noten isoliert hervortreten und das Publikum mittels brillanter Schmettertöne erschauern zu lassen.

Im Gesamtzusammenhang von Vickers' Gesang scheint dieser oft kritisierte Mangel an Tonbildung ein Bestandteil der Interpretation zu sein. Anders formuliert: Indem die Höhe gleichzeitig in die Breite geht, behält sie ihre Leiblichkeit; indem Vickers den Höhen die phallische Spitze nimmt, verweist er gleichzeitig auf die Leidensfähigkeit des Körpers. Diese Erdenschwere der Stimme, verbunden mit interpretatorischer Strenge und instinktiv-subtiler Musikalität machen die Rollenportraits Vickers' ebenso einzigartig wie seine Leistungen im Konzertrepertoire.

Wenn er das berühmte „Ingemisco“ aus Verdis „Requiem“ in der von John Barbirolli dirigierten Aufnahme singt und die einleitenden Phrasen mit einer ans Wundersame grenzenden Behutsamkeit sozusagen streichelt, nimmt man nicht einen auf schwülstige Emphase zielenden Tenor, sondern ein introvertiert ins Gebet versunkenes Wesen wahr.

In den späten sechziger und in den siebziger Jahren arbeitete Herbert von Karajan bevorzugt mit Jon Vickers – „wir haben in wunderbarer Weise zusammengearbeitet“. Vickers sang unter dem 1989 verstorbenen Allgewaltigen der Salzburger Festspiele in „Fidelio“, „Tristan und Isolde“, „Walküre“, „Carmen“ und „Otello“. Bei diesen Festspielen bot ihm Karajan endlich das Forum, das seine außergewöhnlichen Leistungen auch im deutschsprachigen Raum bekannter machte.

Vickers hat stets mit den besten Dirigenten seiner Zeit gearbeitet, was auch seine Diskographie zeigt: Mit Sir Thomas Beecham spielte er Händels „Messias“ ein und verblüffte durch eine stupende Koloraturtechnik. Eine legendäre Aufnahme des „Fidelio“ entstand unter Otto Klemperers Leitung. Unter Erich Leinsdorf ist er als Siegmund in der „Walküre“ zu hören, den er nochmals unter Karajan einspielte. Und mit dem Altmeister Tullio Serafin machte Vickers Verdis „Otello“ – auch heute noch konkurrenzlos.

Unter Sir Colin Davis sang er in Berlioz' „Trojanern“ den Aeneas, eines seiner „bedeutendsten Rollenportraits in einer Produktion, die allein die Erfindung der Schallplatte gerechtfertigt hätte“ (Kesting), in Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ (neben Jessye Norman) und Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Neben diesen Einspielungen sind die von der kleinen amerikanischen Firma VAI (über Import erhältlich) herausgebrachten CDs von Interesse, weil Vickers darauf mit einem Repertoire italienischer Opern und deutscher Lieder zu hören ist, das man von ihm hierzulande nicht kennt.

So brilliert er in einem Live-Mitschnitt von Leoncavallos „Bajazzo“ und in dem schon erwähnten Arien-Recital unter Serafins Leitung. Überwältigend seine magisch-verhaltene Interpretation von Schumanns „Dichterliebe“ und Schuberts „Winterreise“, wo Vickers die Gefühlsextreme des Zyklus jenseits biedermeierlicher Betroffenheit radikal aussingt.

Vickers hat die Partien, die er verkörperte, nicht in den Wohlklang seiner Stimme eingeebnet, sondern aus ihnen die unterschiedlichsten Formen musikalischer, oder besser: menschlicher Existenz geradezu herausgemeißelt. Er hat das Erfahrungszentrum einer Rolle aufgespürt, selbst dort, wo sie an das Unbequeme, das Schmerzliche, das Verstörende rührt.

So ist Jon Vickers trotz seines internationalen Renommees ein Außenseiter geblieben, weil er sich nie als Entertainer gesehen hat und nie jedermanns Liebling sein wollte. Ende der achtziger Jahre sang Vickers letztmals öffentlich. Sein Abschied von der Bühne geschah ohne großes Aufsehen: Eine Last Night of the Prom hat der Sänger sich verbeten.

„Man macht mir oft den Vorwurf, daß ich, in der Art und Weise, wie ich den Künstler und seine Aufgabe sehe, zu philosophisch bin. Vielleicht bin ich zu altmodisch, aber ich glaube daran, daß jede Kunst philosophisch sein muß. Man muß versuchen, als Künstler den Menschen ein klareres Verständnis dafür zu geben, wie man leben kann. Eine bessere Philosophie für das Leben muß man ihnen vermitteln. Und das ist die große Aufgabe. Vielleicht ist es die größte Aufgabe der Kunst, den Menschen zu helfen, mit dem Leben fertig zu werden.“

Welcher heutige Tenorstar stellt solche Ansprüche noch an sich und sein Publikum?