Im Kanal statt im Internet

■ Der neue Webbrowser von Microsoft holt den Zeitschriftenkiosk auf den Bildschirm

Revolutionen fressen nun mal ihre Kinder. Die Revolution des Internet macht davon keine Ausnahme. Mit dem für Bill Gates' Firma typischen propagandistischen Aufwand hat Microsoft schon vor Monaten die Wende angekündigt. Der neue Browser, Internet Explorer version 4.0, werde völlig neue Welten eröffen. Er ist letzte Woche in der endgültigen Version auf den Markt gekommen. Vorbei sei jetzt die Zeit des lästigens Herumsuchens im Web, versprechen die Manager von Microsoft, diese Arbeit übernehme nun das Programm, das zuvor lediglich dazu diente, den HTML- Code von Dokumenten auf dem Heimcomputer auszuführen.

Diese Art des Browsers „war nur der Anfang“, titelte auch die Konkurrenz von Netscape in ihrer Werbung. Mehr als dort trifft der Satz jedoch für Microsofts Modell zu. Ein Monstrum: Die volle Version ist schon in komprimierter Form 25 Megabyte groß, wer in den Genuß der entscheidenden Neuerungen kommen will, muß davon mindestens 15 Megabyte auf seinen Windows-Computer laden. Auch darin kündigt sich die Wende an: Solche Datenmengen sind für ein heute handelsübliches Modem eine Zumutung. Die Ladezeit dauert mehrere Stunden, es empfiehlt sich von vornherein, darauf zu verzichten und sich die entsprechende CD-ROM auf dem Postweg zuschicken zu lassen.

Nach der Installation sind gute hundert Megabyte auf der Festplatte weg, und auch das ist wieder nur der Anfang. Es wird noch mehr gebraucht. Denn wirklich neu an Microsofts Browser ist nur das sogenannte Channel-System, das es möglich macht, komplette Seiten aus dem Netz auf die Festplatte zu schreiben und sie erst danach bei geschlossener Telefonleitung zu lesen.

Neu ist diese Idee keineswegs. Lange bevor das World Wide Web populär wurde, haben Computerfans in ihren vernetzten Mailboxen so gearbeitet – und sie tun es aus guten Gründen auch heute noch. Wer genau weiß, was er sucht, muß nicht durch das uferlose Netz streifen. Typische Mailboxensysteme unterhalten auf ein paar wenigen Rechnern ein genau definiertes Angebot (in Deutschland manchmal „Brett“ genannt). Es handelt sich in der Regel um Diskussionsbeiträge, also um kleinere Textdateien, die abonniert werden. Nach der Übertragung wird die Verbindung zum Server geschlossen.

Nicht anders funktionieren auch Microsofts Channels. Doch schadlos läßt sich diese Methode nicht auf das Web übertragen. Denn Websites bestehen gelegentlich aus Tausenden von Einzeldateien für Grafiken und Texte, ihre Struktur ist in hierarchische Unterverzeichnisse gegliedert, und was sie vor allem auszeichnet, sind die sprichwörtlichen Links, die Verknüpfungen mit Dokumenten auf völlig anderen Rechnern.

Alle diese Erweiterungen sind nur nützlich, wenn der eigene Rechner tatsächlich mit dem Internet verbunden ist. Bill Gates weiß das so gut wie jeder andere. Konsequenter als bei Netscapes Gegenstück, dem sogenannten Netcaster, sind die Channels des Internet Explorers deshalb von vornherein auf bestimmte Angebote festgelegt. Das System selbst zwingt dazu. Channels können nur Kosten und Zeit sparen, wenn sie nicht die Websites übertragen, die heute im Netz verfügbar sind, sondern begrenzte Mengen von Dateien, die zu diesem Zweck vom Anbieter ausgewählt wurden. Wir surfen nicht mehr, wir werden am Strand gefüttert.

Tatsächlich sieht der Bildschirm nach dem ersten Start des Microsoft Explorers 4.0 völlig anders aus. Er gleicht nicht mehr einem Schreibtisch, sondern einem Bahnhofskiosk. Wie dort liegen jetzt am rechten Rand die Hochglanzmagzine übereinandergefächert aus. Die Liste reicht zur Zeit vom Spiegel bis zur Telekom, die sich schon mal fest in dem Programm eingerichtet haben. Im gewohnten Windows-Design lassen sich die einzelnen Titel nun nicht nur abonnieren, auch die Zeit, zu der sie jeweils aktualisiert geladen werden sollen, läßt sich vorher einstellen.

Damit nicht genug: Für die Lektüre offline kann das Browserfenster fast ganz verschwinden. Bildschirmfüllend breiten sich nun mittelmäßige Webgrafiken aus, gerne ist auch etwas Kaufhausmusik dabei. Vom wüsten Internet ist nichts mehr zu sehen, die ganz normale Welt der deutschen Verleger mit ihren Zielgruppen und flotten Werbesprüchen hat uns wieder.

Noch hat diese Revolution des Mittelmaßes bloß die Oberfläche erreicht. Die Grundlagen sind unverändert. Es ist deshalb möglich, jede beliebige Website freihändig der Channel-Liste hinzuzufügen, die sich bei dieser Gelegenheit nur als Variante der guten alten Bookmarks entpuppt. Da die Adresse nun aber ein Channel ist, kann auch sie im Hintergrund ohne das Browserfenster geladen werden.

Doch die Strafe für diesen Mißbrauch des Platzes, den die Verlags- und Werbeindustrie auf dem Desktop gepachtet hat, folgt sogleich. Die Offline-Lektüre danach wird zur Qual: Beinahe jeder Link führt zur Aufforderung, die der Telefonleitung zu öffnen. Ende des Kanals, das Surfen beginnt.

Netscapes Netcaster hat diesem systembedingten Phänomen besser vorgebeugt: Dort ist es möglich, Websites bis in die untersten Verzeichnisebenen hinunter zu laden. Die Übertragung der damit angeforderten Datenmengen dauert dann aber so lange, daß jeder Kostenvorteil dahinschmilzt. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de