Auf dem Konto Zeit statt Geld

Die Umwandlung von Überstunden in Freizeit verhalf Thyssen in Bielefeld zu einem kleinen Jobwunder. Doch nicht alle, die dazu beigetragen haben, profitieren auch davon  ■ Von Walter Jakobs

Horst Schmitthenner, der linke Frontmann aus dem IG-Metall-Bundesvorstand, ist in Bielefeld. Und er ist „ganz begeistert“. Gerade hat er sich bei der Thyssen-Umformtechnik – einem Ableger des Thyssen- Konzerns – im Bielefelder Vorort Brackwede angesehen, wie eine Belegschaft die Gewerkschaftsforderung umsetzt, Arbeitslosigkeit durch den Abbau von Überstunden zu reduzieren. „Bärenstark ist das, was die da machen“, sagt Schmitthenner nach der Besichtigungstour im Bielefelder IG-Metall-Büro, ein „herausragendes Beispiel im gesamten Metallbereich, was wirklich Solidarität mit denen zum Ausdruck bringt, die draußen sind“.

„Bärenstark ist das, was die da machen“

Ralf Redecker ist Thyssen-Betriebsrat und einer von denen, die das Brackweder Modell in Gang gebracht haben haben. Er zuckt ganz unmerklich zusammen, als Schmitthenner neben ihm ins Schwärmen gerät. Vor seinem geistigen Auge erscheint das „bärenstarke Modell“ schon als Überschrift in der Lokalzeitung von morgen, und Redecker weiß ziemlich genau, daß eine solche Botschaft nicht alle seiner 1.550 KollegInnen froh stimmen würde. Gewiß stimmt Redecker seinem Vorstandskollegen aus Frankfurt im Prinzip zu und würde, wie dieser, den Bielefelder Versuch zur „Nachahmung“ empfehlen.

Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas fordert oder umsetzt. Und es ist ein Unterschied, ob man darüber spricht oder gerade mitten drinsteckt. So geht Redecker, dem Vorsitzenden der gewerkschaftlichen Vertrauensleute im Betrieb, das Lob denn doch etwas weit, „weil es die auftretenden Schwierigkeiten und Kritik zudeckt“. Bei einigen im Werk kommt das Lied vom Teilen inzwischen nicht mehr so gut an. Sie fühlen sich als Verlierer.

Michael Walkenhorst gehört nicht dazu. Vor ein paar Monaten saß der 25jährige noch mit Hunderten anderer auf dem Flur des Bielefelder Arbeitsamts. Jetzt steht der gelernte Maschinenschlosser in einer Halle zwischen blitzsauberen Maschinen und legt im Takt verzinkte Metallteile in den zischenden Bauch einer riesigen Presse. Ein paar Schritte weiter verbinden automatische Punktschweißgeräte Streben und Träger. Was hier unter lautem Getöse präzise zusammengefügt wird, mündet in der Achsenfertigung für die neue A-Klasse von Mercedes- Benz.

Knapp 180 Leute, die meisten davon Facharbeiter, hat der Autozulieferer Thyssen-Umformtechnik in diesem Jahr neu eingestellt. Ein kleines Jobwunder. Noch im September 1996 sah die Zukunft des rote Zahlen schreibenden Werkes düster aus. 150 bis 160 Arbeitsplätze sollten abgebaut werden.

Knapp 180 neue Leute wurden eingestellt

Um das zu verhindern, schloß der Betriebsrat mit der Geschäftsleitung eine Vereinbarung ab: Überstunden werden nicht mehr bezahlt, sondern ausschließlich in Freizeit umgewandelt. Das gilt auch für Zuschläge. Wer etwa 6 Stunden am Samstag arbeitet, bekommt auf seinem Arbeitszeitkonto, das bis auf 70 Stunden anwachsen darf, 8,5 Stunden gutgeschrieben. Sie sind in ruhigeren Zeiten abzufeiern. Geht im Werk vorübergehend die Arbeit aus, erlaubt die Vereinbarung im gleichen Umfang sogenannte Minusstunden. Bei gleichbleibendem Lohn wird so Arbeit im Takt der Nachfrage möglich.

„Alle im Betrieb haben diese Vereinbarung damals gelobt“, erinnert sich Betriebsrat Udo Horn. Überraschend kam die ungeteilte Zustimmung nicht, weil jeder von den Kündigungen bedroht schien: Als Gegenleistung für den teilweise erheblichen Einkommensverzicht lockte die Arbeitsplatzgarantie. Mit Solidarität für arbeitslose KollegInnen hatte der Pakt also zunächst kaum wenig zu tun.

Und doch profitierte Michael Walkenhorst davon. Ohne das unter dem Druck der Krise ersonnene Modell stünde er heute noch draußen. Weil die Arbeitszeitkonten der Ausweitung von Überstunden auch in Boomzeiten Grenzen setzen, wurden die Neueinstellungen bei Thyssen-Umformtechnik sehr bald unausweichlich.

Doch nicht alle neuen Jobs sind dem Geldverzicht der Stammbelegschaft zuzuschreiben. Mindestens die Hälfte geht nach Einschätzung des Betriebsrats auf das Konto der neuen Achsenfertigung für den kleinen Mercedes. Um den Zuschlag für diesen begehrten Großauftrag bemühten sich viele. Auch ein britischer Autozulieferer bot nach Aussagen der Bielefelder Gaschäftsführung kräftig mit. Ein Pokerspiel um den Standort, das die Thyssen-Belegschaft mit Zustimmung der IG-Metall zu bitteren Zugeständnissen zwang.

So verlangt eine auch von der IG Metall abgesegnete Betriebsvereinbarung, daß die Fertigung jetzt an sechs Tagen in der Woche läuft. Rund um die Uhr, im Dreischichtrhythmus. Jeder Beschäftigte arbeitet in drei Wochen hintereinander jeweils 48 Stunden. Die vierte Woche hat er dann frei. Über den Monat gerechnet kommt jeder einzelne so auf durchschnittlich 35 Wochenstunden.

Gearbeitet wird jetzt in drei Schichten

Für das Unternehmen ist das neue Schichtsystem sehr lukrativ, denn auf diese Weise fallen die Zuschläge weg. Michael Walkenhorst kümmert das nicht: „Ich war arbeitslos und bin glücklich, daß ich diesen Job habe.“ Er hofft nun, daß sein bisher noch befristetes Arbeitsverhältnis in ein dauerhaftes umgewandelt wird. Daß die Stammbelegschaft auch weiterhin auf Geld verzichtet und damit zusätzliche Neueinstellungen möglich werden, findet er „toll“. Sozusagen bedankt hat sich Walkenhorst auch bei der IG Metall: Wie fast alle Neueingestellten ist er gleich in die Gewerkschaft eingetreten.

Ungeteilt ist die Freude darüber im Betrieb indes längst nicht mehr. Im Schatten der strahlenden Gesichter von Neueingestellten wird inzwischen der Frust von Teilen der alten Mannschaft hörbar. „An vielen Ecken“, so Udo Horn, sei „das zu spüren“. Vor allem die Beschäftigten in den Fachbereichen, Elektriker, Werkzeugmacher, „werden immer unruhiger und fragen, warum wird nicht wieder ausgezahlt“. Bei diesen Fachkräften wuchs das Arbeitszeitkonto inzwischen auf 200 bis 300 Stunden an.

Nach der Betriebsvereinbarung hat der Betriebsrat schon bei 50 Überstunden das Recht zu prüfen, ob Neueinstellungen in Frage kommen. Bei 70 Stunden geht ohne Zustimmung der Arbeitnehmervertreter nichts mehr. Nur mit Ausnahmeregelungen darf diese Grenze überschritten werden. Die aber gibt es immer häufiger, weil, so Betriebsrat Redeker, „die hochqualifizierte Arbeit in den Fachabteilungen nicht einfach von Neueingestellten zu leisten ist“.

Selbst gut ausgebildete Facharbeiter „brauchen in manchen Bereichen ein bis zwei Jahre Einarbeitungszeit, um langgediente Fachkräfte, die mit den betriebsspezifischen Problemen vertraut sind, ersetzen zu können“. In Boomzeiten drohen deshalb die Arbeitszeitkonten trotz Neueinstellungen überzulaufen.

Einige Leute „würden lieber das Geld sehen“

Mit einer Verlängerung des jetzigen Modells über 1998 hinaus rechnet Redeker deshalb nicht. Bei gleichbleibender Konjunktur sei künftig eine Kombilösung denkbar: Ein Teil der Überstunden wird ausgezahlt, der Rest geht auf die Konten. Zurück zu einem „generellen Auszahlen“ wolle der Betriebsrat aber auf keinen Fall: „Dann ist das Modell gestorben. Das wäre eine Kapitulation.“

Die Kritik an der jetzigen Regelung, das nimmt auch Horst Schwitalski aus dem Werkzeugbau im Kollegenkreis wahr, „wird lauter“. Ein Teil der Leute „würde lieber das Geld sehen, aber bisher hat noch keiner gesagt, ich kann nicht mehr“.

Für manche sind die materiellen Einbußen immens. So kamen bei gut verdienenden Werkzeugmachern zu dem Bruttogehalt von rund 4.500 Mark pro Monat nicht selten 500 bis 1000 Mark netto durch Überstunden zusätzlich in die Haushaltskasse. „Das war fast eine feste Bank, mit der man rechnen konnte“, sagt der 49jährige. Er selbst, geschieden, ein Kind, komme gut rum, „aber die sogenannten Spontankäufe haben bei mir komplett aufgehört“.

Daß es so glatt nicht bei allen abgeht, weiß Udo Horn. „Wir haben auch Leute, die nicht viel mehr als 20 Mark die Stunde verdienen und die früher 40 Überstunden im Monat hatten. Da ist jetzt schon an jeder Ecke das Knacken im Gebälk zu hören.“ Und wie kommen die zurecht? „Zum Teil nehmen die in ihrer Freizeit Zweit- und Drittjobs an. So weit sind wir schon“, sagt Horn. Für Horst Schwitalski kommt das nicht in Frage. Er weiß die Freuden des begrenzten Konsumverzichtes inzwischen zu genießen: „Ich werde nie wieder soviel arbeiten wie früher, denn ich habe inzwischen gelernt, wie schön Freizeit ist.“