■ In Rußland stabilisiert sich die Wirtschaft – und die Demokratie: Zivilisatorischer Fortschritt
Rußland befinde sich am Rande einer sozialen Katastrophe, die schwerwiegende politische Folgen zeitigen würde – so hieß es im vergangenen Herbst, als russische Intellektuelle in einem weltweit beachteten Appell vor einem weiteren Zerfall ihres Landes warnten. Immerhin stammte dieser Appell aus der Feder so honoriger und hochanständiger Leute wie dem Menschenrechtler Sergej Kowaljow und Lew Kopelew. Verbal wurde das Manifest sofort durch Berufspatrioten vom Schlage Alexander Lebeds unterstützt, der sein Land auf westlichen Politbiz-Tourneen seltsamerweise immer in Mißkredit bringt und den Rest der Welt in Aufregung versetzt.
Im Herbst 1997 bleibt unterdessen wieder alles ziemlich ruhig in Rußland. Statt Wirtschaftskollaps, Hungertod, politischem Chaos und Armeerevolte melden die Statistiken gar einen winzigen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 0,2 Prozent. Erstmals seit dem Umbruch 1992. Darüber hinaus werden die Russen mehr: In Moskau und einer ganzen Reihe Regionen sagen Eltern wieder ja zu einem Kind. Wäre das bei uns der Fall, würde man sicherlich von einer positiven Konjunktur und wiedererlangter Lebensfreude sprechen. Nicht so indes, findet es in dem finsteren Riesenreich statt. Warum haben wir nur so viel Freude an vermeintlich düsteren Zuständen bei anderen? Doch das nur nebenbei...
Obwohl die äußerlich grimmige Opposition in Rußlands Parlament der Regierung mit einem Mißtrauensvotum droht und deren Haushaltsentwurf nicht passieren lassen will, hält sie sich doch ans parlamentarische Verfahren und überstürzt die Dinge nicht. Eine Schlichterkommission befaßt sich nun mit der Aushandlung eines Kompromißentwurfs, der dann von der Duma verabschiedet werden könnte. Aufmüpfige Funktionäre der Opposition aus den Provinzen wurden von ihrer Führung zurückgepfiffen oder zurechtgewiesen.
Man mag das für Opportunismus oder gar Feigheit vor dem Feind halten. Doch am Ende kommt ein Haushalt heraus, der auch die Klientel der Kommunisten ansatzweise zufriedenstellt. Das russische Parlament, lange Zeit ein tumultuarischer Haufen, lernt Kompromisse auszuhandeln und an der Sache zu diskutieren. Für Rußland ist das ein ungeheuerlicher zivilisatorischer Fortschritt, den die Länder mit Vorbildcharakter und gepriesener civil society gerade im Begriff sind zu verlernen.
Apropos. Kürzlich wies ein russischer Wissenschaftler darauf hin, daß fast jeder russische Bürger Eigentümer seines Wohnraumes sei und somit schon ein wesentliches Kriterium der Mittelschichten erreicht hätte. Wie steht es damit eigentlich bei uns? Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen