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„Dickleibige Expertisen verstauben im Regal“

■ Jochen Wermuth gehört zur Gruppe internationaler Berater, die der russische Finanzminister vor fünf Jahren gerufen hat. Der deutsche Experte hält Rußlands Wirtschaft für besser als ihren Ruf

taz: Rußlands Opposition behauptet, Weltbank und Internationaler Währungsfonds würden dem Kreml diktieren, was zu machen sei. Ist die Angst vor Fremdsteuerung begründet?

Jochen Wermuth: Der IWF hat sich in der Tat schlecht verkauft. Zum erstenmal seit 1974, damals in Thailand, führte er in Rußland wieder monatliche Kontrollen ein. Die Russen reagieren darauf sehr empfindlich, sie fühlen sich erniedrigt. Der Medienrummel jedes Mal – in so kurzen Abständen – verstärkte den Eindruck massiver Einflußnahme. Die Öffentlichkeit reagierte immer unfreundlicher und abweisender. Grundlos. Denn seit 1995 schreibt der IWF nicht mehr – wie in den Vorjahren – am Regierungsprogramm mit.

Aber Druck wird trotzdem ausgeübt, allein um die Haushaltsdisziplin zu gewährleisten.

Eine ganze Reihe amerikanischer und europäischer Einrichtungen wirken vor Ort, die unter dem Sammelbegriff „technische Hilfe“ figurieren. Allein die EU stellte zwei Milliarden Ecu zur Verfügung. 95 Prozent der Gelder verschwinden in den Taschen der angereisten europäischen und amerikanischen Berater. Die russische Regierung hält nicht viel von dieser Expertenhilfe, weil sich die Mittel bestenfalls in dickleibige Rechenschaftsberichte verwandeln, die danach auf Bücherregalen verstauben. Nennenswerte meßbare Ergebnisse haben sie bisher nicht hervorgebracht.

Vor allem Detailfragen müssen bearbeitet werden. Es fängt an mit Selbstverständlichkeiten wie einem vernünftigen Steuerkodex oder einem ordentlichen Haushaltsgesetz. Würden wir Russen für ein halbes Jahr ins Ausland schicken, um Erfahrungen zu sammeln, wäre das viel effektiver.

Was ist mit den Klagen, man wolle Rußland nicht in den westlichen Markt hineinlassen?

Eine Befreiung von Importzöllen der Europäischen Union würde Rußland weitaus mehr nützen als alle technische Hilfe und Kredite. Irgendwie scheint man den Wandel in den letzten vier Jahren nicht so recht würdigen zu wollen. Dabei ist eine Menge geschehen: Mittlerweile gibt es hier weniger Preiskontrollen als in Europa und den USA. Sogar in der Zollpolitik legt Rußland mehr Liberalität an den Tag als die EU.

Das klingt alles nach einer unglaublichen Erfolgsstory. Während man von außen Präsident Jelzin und seine Mannschaft eigentlich immer am Rande des Vulkans tanzen sieht.

Die von uns erhobenen Daten belegen eins: In Wirklichkeit verdient Rußland eine höhere Einstufung, als es der Markt bisher einschätzt. Fortschritt ist da, politische Stabilität vorhanden, die Demokratie mehr oder weniger gefestigt. Auch das Parlament funktioniert, dessen Gesetze allmählich immer besser umgesetzt werden. Die Geldpolitik blieb stabil, die Handelsbilanz positiv. Mit der neuen Regierung unter Anatoli Tschubais macht es wieder Spaß zusammenzuarbeiten. Im Laufe der nächsten zwei Jahre müßte es gelingen, auch die sozialen Ungerechtigkeiten aufzufangen.

Die Russen sind bekanntlich geduldig und hart im Nehmen.

Zugegeben, die Wirtschaftslage der meisten hat sich im letzten Jahr erheblich verschlechtert. Nur schlug es nicht mit voller Wucht durch, weil sich jede zweite Familie auf ihrem Stückchen Land selbst versorgt. Das Klischee der armen verhungernden Großmutter, die ihr letztes Hab und Gut verhökert, trifft aber auch nicht den Kern der Sache. Und nicht alle, die Geld haben und etwas unternehmen, sind gleich rücksichtslose Mafiosi, wie man landläufig annimmt. Viele Banker und sogenannte Mafiosi sind in Wirklichkeit hochintelligente Physiker oder Mathematiker, die ihren Steuerverpflichtungen bereitwillig nachkämen. Bisher erlaubt es das absurde Besteuerungssystem nur nicht. Änderungen werden gerade in Angriff genommen.

Wann raten Sie zu Investitionen?

Im nächsten Jahr rechnen wir mit zwei Prozent Wachstum, 2005 dürfte Rußland einen Lebensstandard erreicht haben wie Portugal. Dann drängen Investoren zuhauf ins Land. 1992 betrug das Bruttoinlandsprodukt ganze 80 Mrd. Dollar, vergleichbar dem Kapitalvolumen der Barclays Bank, heute umfaßt es schon 440 Mrd.. 2005 müßte es mit 1.000 Mrd. US-Dollar Kanada schon überholt haben. Interview: Klaus-Helge Donath

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