: Zahnpasta und Nagellack
„In seiner realen Präsenz zu dominant“: Von den documenta-Machern einst abgelehnt, zählt Robert Rauschenberg mittlerweile längst zu den Stützen der internationalen Kunstszene – Zur großen Retrospektive im New Yorker Guggenheim-Museum ■ Von Stefan Koldehoff
Bob lasse sich entschuldigen. Bob sei unpäßlich. Das wechselhafte Wetter in New York, der bis spät in die Nacht dauernde Empfang für geladene Gäste am Vorabend – was genau ihn bewogen habe, den Vormittag lieber im Bett zu verbringen, wußte auch Direktor Thomas Krens nicht genau zu sagen, als er anstelle des eigentlich angekündigten Malers die anwesenden Journalisten zur Eröffnung begrüßte. Vielleicht hätte einfach der Hinweis auf das Alter von Robert Rauschenberg genügt: Daß auch die Väter der Pop-art längst Großväter geworden sind, wird oft vergessen – ihre Bilder scheinen noch so aktuell und frisch. Erst wenn einer von ihnen stirbt, wie gerade Roy Lichtenstein, fällt auf, daß auch Jasper Johns inzwischen 67 ist und Robert Rauschenberg in diesem Monat 72 Jahre alt wird.
Zeit also für die große Retrospektive, die die amerikanische Kunstwelt ihren Helden traditionell in New York ausrichtet – 1993 für Lichtenstein, 1996 für Johns und nun endlich auch für Robert Rauschenberg. Fünf parallele Ausstellungen hatte Thomas Krens eigentlich geplant: Je eine hätte Rauschenberg als Grafiker, als Zeichner, als Maler, als Bildhauer und als Künstler zeigen sollen, der mit neuen Technologien arbeitet. Daß Kurator Walter Hopps von der Menil Collection in Houston dieses Konzept kategorisch ablehnte und auf einer einzigen Werkschau bestand, erweist sich in New York als sinnvoll. Ausgerechnet Rauschenberg, den großen Techniken- und Themenmixer, diversifizieren zu wollen wäre seinem Werk nicht nur nicht gerecht geworden. Eine solche Aufteilung hätte geheißen, Rauschenberg nicht verstanden zu haben.
Hopps, der schon die Werkschau 1976 in Washington verantwortet hatte, hat rund 400 Werke zusammengetragen und klug so auf drei Ausstellungsorte in Manhattan verteilt, daß trotz räumlicher Entfernung der Werkzusammenhang erhalten bleibt. Der sich spiralförmig in die Höhe windende Haupteingang des Guggenheim Museums am Central Park hat Rauschenbergs Gemälde und Skulpturen aufgenommen. Chronologisch gehängt, beginnt diese Werkschau bei den ersten monochrom weißen Gemälden, mit denen Rauschenberg sich zu Beginn der fünfziger Jahre so bewußt wie deutlich vom dominanten abstrakten Expressionismus eines Franz Kline oder Jackson Pollock und seinen Gedankengebäuden distanzierte. „Ich möchte, daß meine Persönlichkeit nicht durch mein Werk zum Ausdruck kommt“, betonte er in einem Interview. „Ich will, daß meine Bilder Reflexionen des Lebens sind. Selbstvisualisierung ist die Wiedergabe der eigenen Umgebung.“
Um dieser Umgebung gerecht werden zu können, sprengte Rauschenberg immer wieder alle inhaltlichen und formalen Konventionen. Er entwickelte 1951 mit den „Combine Paintings“ seine eigene Form der Assemblage, indem er gedrucktes und anderes flaches Material zusammen mit der Farbe auf die Leinwand brachte. Zwei Jahre später genügten zwei Dimensionen nicht mehr, Rauschenbergs Werke wurden plastisch. Für das „Bed“, eines der trotz spiralförmiger Anordnung zentralen Werke der Retrospektive, verarbeitete er neben Kopfkissen und Quiltdecke auch Zahnpasta und Nagellack. 1953 lehnte die documenta das für die damalige Zeit unerhörte Bild ab. Es erschien den Veranstaltern „in seiner realen Präsenz zu dominant“. Heute gehört das unverändert frische Hochformat als Stiftung des Galeristen Leo Castelli zu den Hauptwerken der Nachkriegssammlung des Museum of Modern Art.
Das 1955 entstandene Gemälde „Monogram“ nahm Rauschenberg vier Jahre später nach mehreren Überarbeitungen wieder von der Wand ab und legte es auf den Boden. Auf seine Mitte setzte er einen ausgestopften Angorawidder – „Angora ram“. Der Bildtitel erhielt eine neue anagrammatische Bedeutung. In anderen Werken wie der „Odaliske“ von 1955–58 sind Fundstücke wie getrocknetes Gras, Stahlwolle und Zeitungsfotos verarbeitet – als zufälliges und dadurch immer aktuelles Assoziationsmuster, nicht als kognitiv arrangiertes Ensemble mit Zeitbezug. Jeder Versuch, dem ×uvre Robert Rauschenbergs eine eigene Ikonographie aufzuzwingen, wird damit absurd. Auf der Rampe des Guggenheim-Museums darf einfach assoziiert werden.
Welche unterschiedlichen Techniken sich Rauschenberg während seiner fast fünfzigjährigen Tätigkeit angeeignet hat, zeigen die Galerien im Seitenturm des Museums auf drei Etagen. Dort sind Rauschenbergs Arbeiten auf Fotopapier und Textilien, vor allem aber seine Drucke zu sehen. Ein Mitte der 50er Jahre entwickeltes chemisches Verfahren ermöglichte es ihm seither, Fotovorlagen und Zeitungsbilder direkt auf die Leinwand zu übertragen. Später experimentierte er mit Wellpappe. Metallische Bildträger entwickelte Rauschenberg während der Arbeit am Projekt „Rauschenberg Overseas Culture Interchange“ (ROCI), in dem zwischen 1984 und 1991 sein Glaube an die Kraft der Kunst und der künstlerischen Zusammenarbeit für soziale Veränderungen kulminierte. Sieben Jahre lang bereiste Rauschenberg mit seinen MitarbeiterInnen elf Länder, darunter Deutschland, Mexiko und China, um die dortigen künstlerischen Traditionen kennenzulernen und sie sich, soweit gewollt und gekonnt, anzueignen. Ausstellungen der Rauschenberg-Adaptionen beendeten in jedem Land den Aufenthalt. Entstanden sind dabei leuchtend farbige Arbeiten wie die „Urban Bourbons“ (1988–95) und dunkel-monochrome wie die „Night Shadows“ von 1991. In New York in einem eigenen Raum gehängt, wirken sie heute wie große, distanzierend metallisch glänzende Postkarten aus einer fremden Welt.
Große Formate allerdings finden im Guggenheim-Museum kaum Platz. Viele neue Werke wie die monumentale „Chain Reaction“ von 1996, Rauschenbergs Hommage an die Freiheit der Kunst, können deshalb nur in der zweiten Etage der Guggenheim- Dependance SoHo am unteren Broadway gezeigt werden. Das Erdgeschoß ist dort Rauschenbergs Performances und der Zusammenarbeit mit Musikern wie dem befreundeten John Cage gewidmet, der in der Musik ebenfalls versuchte, alltägliches in seine Partituren einzufügen: Schreibmaschinengeklapper und Flugzeuglärm, Autohupen und Vogelgezwitscher. Für verschiedene Tanztheater arbeitete Rauschenberg als Choreograph, Kostüm- und Bühnenbildner. Die Installation „The 1/4 Mile or 2 Furlong Piece“ schließlich fand als dritter Teil der Retrospektive nur in der Ace Gallery an der Hudson Street Platz.
Den „Pablo Picasso der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ nannte Guggenheim- Direktor Thomas Krens in seiner ungewohnt pathetischen Eröffnungsansprache Robert Rauschenberg. Tatsächlich ist diese Platitüde inhaltlich so falsch nicht. Wie er riß auch Rauschenberg die Grenze zwischen Leben und Kunst nieder. Wie Picasso eignete und eignet sich auch Robert Rauschenberg bis heute unentwegt neue Techniken an, um noch andere, noch präzisere Ausdrucksformen zu finden. Jasper Johns hat, das belegte die Retrospektive im vergangenen Jahr – auch durch die zu separate Hängung in Köln –, im eher belanglos dekorativen Spätwerk seine Kraft verloren. Roy Lichtenstein ist es zeit seines Lebens immer nur gelungen, mit Mühe seine Motive, nie aber seine zum Markenzeichen gewordene Technik zu variieren. „Alles ist gezeigt, alles ist enthüllt“, sagte er dazu im taz-Interview. Das ×uvre Robert Rauschenbergs dagegen birgt, das ist in New York deutlich zu spüren, nach wie vor eine starke innovative Kraft, und es ist noch lange nicht beendet – auch wenn sich Bob jetzt dann und wann entschuldigen läßt.
„Robert Rauschenberg – A Retrospective“. Guggenheim Museum und Guggenheim Museum SoHo, bis 4. Januar 1997. Ace Gallery, New York, bis 19. November 1997. Vom 27. Juni bis 11. Oktober 1998 im Museum Ludwig, Köln.
Katalog: 632 Seiten, Paperback 45$, Hardcover 75$
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