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Oh, what a mess!

Rekorde, Rituale, Relativität: Heute wird die 49. Frankfurter Buchmesse mit neuen Ausstellerrekorden eröffnet. Es werden aber weniger Besucher erwartet  ■ Von Jörg Magenau

Berlin (taz) – Oh, what a mess, pflegt der Brite zu sagen und meint damit: „Was für ein Durcheinander!“ Im Deutschen ist eine Messe meistens ein katholischer Gottesdienst und findet in der Kirche statt. Manchmal ist eine Messe aber auch eine Großausstellung, bei der eine Wirtschaftsbranche sich selbst inszeniert. Dann wird sie in eigens zu diesem Zweck errichteten riesigen Hallen aus Glas und Stahl zelebriert: what a mess!

Daß man beides, Gottesdienst und Marktplatz, das Heilige und das Profane mit demselben Begriff bezeichnet, demonstriert die althergebrachte Untrennbarkeit von Beten und Verkaufen. Unstillbar ist das menschliche Grundbedürfnis, ökonomisches Werkeln mit Sinn aufzuladen und göttliche Unterstützung für die eigenen Geschäfte zu erzwingen. „In god we trust“ steht sehr präzise auf US- Dollarnoten.

Auch die Frankfurter Buchmesse ist ein heiliger Ort, Pilgerstätte des Literaturbetriebs. Mit ökonomischer Rationalität hat es wenig zu tun, daß Verlage keine Kosten und Mühen scheuen, um an diesem verlegerischen Erntedankfest teilzuhaben und dort dem Überfluß und dem Wachstum zu huldigen. 306.476 Titel werden bei der diesjährigen, der 49. Buchmesse vorgestellt, 79.898 davon sind Neuerscheinungen. Auf einer Fläche von 184.000 Quadratmetern präsentieren sich knapp 9.600 Aussteller aus 107 Ländern. Das bedeutet ein Wachstum von 3,2 Prozent.

2.507 Aussteller kommen aus Deutschland. Daneben am stärksten vertreten: britische (904) und US-amerikanische (793) Verlage. Damit ist Frankfurt nicht nur die weltweit größte, sondern auch die größte englischsprachige Buchmesse. Aus Portugal, dem in diesem Jahr der Schwerpunkt gewidmet ist, kommen 120 Aussteller nach Frankfurt. Und auch aus Mittel- und Osteuropa sind mit 689 Verlagen 176 mehr als im Vorjahr registriert.

Die Buchmesse wäre nicht die Buchmesse, wenn sie nicht immer weiter wachsen würde – und es gehört zu ihren feststehenden Ritualen, daß alle Teilnehmer über die anschwellende Überdimensionierung stöhnen. Für Autoren, die vielleicht gerade mit einem ersten Lyrikband debütieren, ist der Gang durch diese Fülle nicht leicht. Hier, wo jedes Kunstwerk sich restlos in das Atom eines Warenberges transformiert, wird brutal die Relativität des eigenen Schaffens offenbar. Wer angesichts des unumkehrbaren Auraverlustes trotzdem daran festhält weiterzuschreiben, muß ein kräftiges Ego besitzen. Trostloser Anblick, am Stand eines der großen Verlage vorbeizugehen, wo traurige Jungautoren in Reih und Glied sitzen und darauf warten, daß sich jemand für sie interessiert. Doch nirgendwo ist es schwieriger, Aufmerksamkeit zu erregen, als in den weiten Hallen der Buchmesse. Nirgends ist das einzelne Werk weniger wert als hier, wo die Schriftstellerdichte am größten ist: 1.041 Autorinnen und Autoren werden in den nächsten Tagen an 1.347 Veranstaltungen teilnehmen.

Auch wenn in den Feuilletons hartnäckig um die „Welthaltigkeit“ der Literatur debattiert wird – hier geht es allein um die Geldhaltigkeit der Bücher: um den Handel mit Rechten und Lizenzen und den Einkauf von Übersetzungen. In einem Bereich allerdings meldet die 49. Buchmesse keine neuen Rekorde, sondern rückläufige Zahlen: im elektronischen Publizieren. Die hochgesteckten Erwartungen für dieses Marktsegment haben sich nicht erfüllt. Der Anteil multimedialer Aussteller geht gegenüber dem Vorjahr um 10 Prozent zurück und liegt nun bei 1.250 Anbietern. Und auch die Besucherzahlen werden wohl rückläufig sein: Nachdem die Veranstalter die Eintrittspreise für Fachbesucher von zwölf auf 25 DM pro Tag erhöht haben, rechnen sie nur noch mit 200.000 Besuchern (im Vorjahr: 320.000).

Am Ende bricht sich nach soviel Markt traditionsgemäß das Bedürfnis nach Kirche Bahn. Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist eine höchst würdevolle Angelegenheit. Die Zeremonie in der Frankfurter Paulskirche steht traditionsgemäß am Ende der Messetage. In diesem Jahr erhält der türkische Autor Yasar Kemal die mit 25.000 DM dotierte Auszeichnung. Die Laudatio hält Günter Grass, der am Donnerstag wohlterminiert 70 Jahre alt wird.

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