Kein unsichtbarer Roman

„Die Stadt der Blinden“ ist eine unterhaltsame Geschichte – und José Saramago ein Mann mit imposanten Augengläsern  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Ein Mann wartet in seinem Auto vor einer Ampel. Plötzlich erblindet er. Wo eben noch Formen und Farben waren, ist nun alles weiß. Autos hupen verärgert; ein hilfsbereiter Mitbürger bringt den Erblindeten nach Hause. Der Augenarzt weiß auch keinen Rat. In der Nacht verliert er sein Augenlicht über dem Studium augenärztlicher Fachbücher. Es erblinden alle Patienten, die in der Praxis des Augenarztes waren. Eine Hure hält das Weiß, das so plötzlich beim Sex im Hotel erscheint, zunächst für einen besonders gelungenen Orgasmus, dann rennt sie nackt und schreiend durch die Hotelhalle; Polizisten, Taxifahrer, Autodiebe — alle verlieren ihr Augenlicht so allmählich epidemisch.

Wie die Blindheit in der namenlosen Stadt übertragen wird, ist unklar. Vielleicht durch bloßen Blickkontakt, vermutlich ist das alles auch symbolisch zu verstehen. Theiresias ist nicht fern. Die Regierung interniert die Blinden jedenfalls in einem ehemaligen Irrenhaus. Soldaten versorgen das Lager und erschießen die, die fliehen wollen. „Die Stadt der Blinden“, der neue Roman des mittlerweile 75jährigen portugiesischen Großschriftstellers José Saramago, ist ein spannender Modellversuch irgendwo zwischen Robinson Crusoe und der „Grünen Wolke“ von A.S. Neill. Ein Spiel mit einer glücklicherweise nicht allzu aufdringlichen Symbolik.

Zunächst sind es ein paar Dutzend Blinde, die versuchen, ihren Lageralltag zu organisieren. Später werden es mehr. Erwartungsgemäß reißen alle zivilisatorischen Stränge. Die sanitären Verhältnisse sind nicht schön, die Toiletten schnell unbrauchbar, Scham ist ein Fremdwort, auf den Gängen stapeln sich die Ausscheidungen, wer krank wird, stirbt schnell. Nervöse Soldaten sorgen für Leichen, die den Gestank intensivieren.

Erst kommt das Brot, dann die Moral. Eine Gruppe bösartiger Blinder übernimmt die Essensverteilung und will dafür bezahlt werden. Später verlangen sie Frauen. Die kriegen sie auch nach anfänglicher Gegenwehr. Äußerst brutal nehmen die Dinge ihren Verlauf.

Natürlich lehnt man sich auch auf. Bei der zweiten Massenvergewaltigung ersticht die Frau des Augenarztes, die aus ungeklärten Gründen sehend bleibt und das vor ihren Leidensgenossen verschweigt, den Anführer der bösen Blinden. Nach diversen Kämpfen brennt das Irrenhaus, die Lagerinsassen drängen nach draußen. Dort sind längst auch alle anderen Städtebewohner erblindet und streifen auf der Suche nach Eßbarem in Horden durch die Stadt. Nichts funktioniert mehr.

Während der erste Teil des Romans, in dem Saramago das neue Leben im Lagerinneren beschreibt, sehr interessant und spannend zu lesen ist — sehr schön vor allem die Diskussionen, in denen es darum geht, ob man die Frauen ausliefert, um weiter Essen zu kriegen —, fällt der zweite Teil, der das Leben in der blinden Stadt beschreibt, ab. Die Symbolik wirkt aufgesetzt, wenn die Augen der Heiligen in den Kirchen zum Beispiel übermalt oder mit schwarzen Tüchern verhängt sind. Eine Liebesgeschichte kommt auch vor, und am Ende können alle plötzlich wieder sehen. Moralisch ist das sicher auch zu verstehen, Blindheit steht dann in Anführungszeichen.

Der Roman ist durchgehend polyphon geschrieben; ein wilder Stream of consciousness, an dem mehrere Stimmen und der unsichtbare Erzähler beteiligt sind. Die logischen Probleme, die mit einer solchen Erzählweise verbunden sind, löst Saramago allerdings nicht auf. Fast durchgehend schreibt er aus der Perspektive der Sehenden. Selbst als gegen Ende des Romans ein erblindeter Schriftsteller auftaucht, verzichtet er darauf, aus dessen Chronik der Ereignisse zu zitieren. So sehnt man sich nach einer konsequenteren, sozusagen unsichtbaren Version des Romans. José Saramago trägt übrigens eine große Brille mit sehr imposanten Augengläsern.

José Saramago: „Die Stadt der Blinden“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Ray-Güde Mertin. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 420 Seiten, 42 DM