: Überleben mit zehn Mark in der Stunde
Serie „Stets zu Diensten“ (6): Beschäftigte im Wachdienst, Taxigewerbe und in Kneipen können mit ihrem Verdienst eine Familie oft nicht mehr ernähren. Über die Runden helfen hinzuverdienende Ehepartner, überlange Arbeitszeiten oder Mogelei bei der Sozialversicherung ■ Von Barbara Dribbusch
Ein Auto ist nicht drin. Teure Urlaubsreisen? Gleichfalls Fehlanzeige. „Wenn meine Frau nicht verdienen würde, kämen wir nicht über die Runden“, sagt Jürgen Klosters*, 45 Jahre alt und Wachmann. In der Berliner Charité sitzt er im gläsernen Pförtnerhäuschen, weist Autos auf dem Parkplatz ein und patrouilliert nachts durch die Bettenhäuser.
Er verdient mit seinem Vollzeitjob knapp 11 Mark brutto die Stunde, 1.700 Mark netto im Monat. Klosters ist Dienstleister in einer angeblich expandierenden Branche. Und Klosters ist ein working poor, ein arbeitender Armer.
Nach der Europäischen Sozialcharta beträgt die Armutsgrenze 68 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens (die EU- Kommission dagegen meint, daß erst „arm“ genannt werden soll, wer 50 Prozent des Durchschnittseinkommens oder weniger erhält). Der durchschnittliche bundesdeutsche Arbeitnehmer verdient 2.700 Mark netto, die Armutsgrenze verläuft also bei 1.840 Mark – und Klosters liegt darunter. Damit ist er nur einer von vielen zehntausend Dienstleistern in Berlin, die mit ihrem Einkommen kaum mehr als den Lebensunterhalt sichern können.
Ohne zusätzliche Stützen läuft nichts: Ein hinzuverdienender Ehepartner hilft mit, über die Runden zu kommen, vielleicht sogar die ganze Familie. Mit vielen Überstunden wird der Niedriglohn kompensiert. Und ein bißchen Mogelei mit der Sozialversicherung hilft besonders in der Gastronomie und im Einzelhandel, die Nettolöhne nicht noch weiter absacken zu lassen. Ein Zeitenwechsel: Das vorherrschende Arbeitsmodell des deutschen Wirtschaftswunders – das Gehalt einer (männlichen) Erwerbsperson pro Familie reicht zum Lebensunterhalt aus – verliert allmählich an Bedeutung.
„Im Bewachungsgewerbe sind 12-Stunden-Schichten üblich“, berichtet Detlef Wahl, der in der Berliner Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) für Dienstleistungen zuständig ist. Viele Wachleute arbeiten 200 Stunden im Monat. „Trotzdem müssen manche Wachmänner zum Sozialamt, weil das Geld nicht reicht“, erzählt Wahl. Das Gros der Wachunternehmen ist aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten und zahlt tariflos. „Das ist Wildwest, schlimmer als in der Gebäudereinigung oder auf dem Bau!“ stöhnt Wahl.
Zum Billigstundenlohn ackern inzwischen auch viele Berliner Taxifahrer. Warten, eine Tour durch die Stadt, wieder anstellen als zehnter am nächsten Taxistand, dösen, warten – das nervt. „Die Leute sitzen heute zehn, zwölf Stunden in der Droschke, um die geringeren Einnahmen zu kompensieren“, erzählt Joachim Marquardt, Vorsitzender des Taxiverbandes Berlin.
Der Verband hat in jüngster Zeit mal wieder den Stundenumsatz pro Taxe ermittelt und mit früher verglichen. Mit den goldenen Zeiten kurz nach der Wende, als die Taxen Tausende von spendierfreudigen Touristen und euphorisierten Yuppies durch die Stadt chauffierten. Damals lag der Stundenumsatz im Schnitt knapp unter 30 Mark, heute nähere man sich „der 20-Mark-Grenze“, berichtet Marquardt.
20 Mark „Kasse“ in der Stunde: Davon bleiben einem festangestellten Taxifahrer etwas über 40 Prozent in der eigenen Tasche. Das macht acht Mark Stundenlohn plus Trinkgeld. Doch auch mit Überstunden kommen die Kutscher mitunter auf nicht mehr als 1.800 Mark netto im Monat. „Mit dem Geld ist es unmöglich, alleine eine Familie zu ernähren“, sagt Taxiunternehmerin Barbara Galimoff. Viele Taxifahrer kämen inzwischen nur noch über die Runden, „weil die Ehefrauen irgendwo in gesicherten Positionen arbeiten“. Von „Hinzuverdienst“ kann dabei nicht mehr die Rede sein: Nicht selten sind die Ehefrauen die Hauptverdiener, während die selbständigen Droschkenkutscher mit dem sauer Verdienten gerade mal die Raten für den Daimler abstottern.
Nicht nur die Ehefrauen, auch Großeltern, Geschwister und Kinder helfen in vielen türkischen Kleinunternehmen mit, um die trüben Erträge etwas aufzubessern. Manche Döner-Buden und Gemüseläden können nur überleben, „weil alle mitarbeiten“, erzählt Ahmet Ersöz, Sprecher der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung.
Der Berliner Soziologe Eberhard Seidel-Pielen ermittelte in diesen familiär geführten Kleinbetrieben Stundenentgelte von sieben Mark, auch für die Ladeninhaber, wohlgemerkt. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht. Im Gegenteil: Die lange Abendöffnung ist oft der große Vorteil gegenüber der deutschen Konkurrenz.
Zehn-, Elfstundenschichten und eine Sechstagewoche sind auch in türkischen Bäckereien nicht unüblich. Die Beschäftigten dort kämen immerhin auf „etwa 2.000 Mark netto“, sagt Ersöz. Er möchte mit dem Vorurteil aufräumen, daß Ausländer oft zu Billiglöhnen oder gar schwarzmalochten. „Es gibt genug Arbeitslose mit allen Papieren, da brauchen die Betriebe nicht auf Illegale zurückzugreifen.“
In deutschen und ausländischen Restaurants gehört etwas Schummeln bei der Sozialversicherung dennoch zum Überleben. Oftmals sind die Kellnerinnen und Küchenhelfer pro forma auf 610-Mark-Basis beschäftigt, ohne Sozialversicherungspflicht. Das reicht für die Gewerbeaufsicht.
Wie lange die Leute dann wirklich schuften und welcher Schein noch schwarz den Besitzer wechselt – „wer will das kontrollieren?“ meint Ersöz. Stundenlöhne von zehn bis elf Mark sind in den Restaurantküchen üblich.
Asylbewerber schließlich sind völlig erpreßbar, stehen am Ende der Kette und können aufgrund ihrer schlechten Ausgangsbasis kaum Forderungen stellen. Sie haben hier so gut wie keine Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis und sind auf risikofreudige Restaurantbesitzer angewiesen, die sie einerseits ausbeuten. Andererseits geben sie ihnen aber auch eine kleine Verdienstchance.
Manyu* beispielsweise kam aus Indien nach Berlin und ist offiziell irgendwo in Brandenburg als Asylbewerber gemeldet. In einem indischen Schnellrestaurant zerkleinert er Fleisch, Rahmkäse und Möhren und rührt den Kichererbsenteig zusammen. Sieben Mark die Stunde, mehr ist nicht drin. Wenn eine Kontrolle kommt, ist alles vorbei. „Was soll ich machen“, sagt er achselzuckend, „es ist immer noch viel mehr, als du in der Heimat verdienst.“
Kim* dagegen ist durch ihre Heirat mit einem deutschen Krankenpfleger abgesichert. Sie hat sich erfolgreich eine Marktlücke gesucht und in ihrer Wohnung in Moabit eine Art privater Garküche eingerichtet. Sie schnippelt Lauch, Gurken, Zwiebeln, brutzelt Hackfleischbällchen und Fischklößchen.
Die fertig gekochten Menüs wandern in kleine Plastikbeutel, ein Mittelsmann liefert sie an thailändische Privatleute, Bordelle und Büros. Thais in Berlin wollen nun mal thailändisch essen. Kim kommt auf 14 Mark „Gewinn“ pro Arbeitsstunde, krankenversichert ist sie über ihren Ehemann. Niedriglohn ist für sie kein Thema. „Das Geschäft läuft“, sagt sie. „Das könnte ich ausbauen“, ist Kim überzeugt. Während die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft oftmals dazu führt, soziale Sicherheit zu verringern, ist Kim eher ein Beispiel dafür, daß neu entstehende Kundenbedürfnisse und Marktnischen auch zusätzliche Verdienstmöglichkeiten eröffnen.
* Namen geändert
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