: Mit den Diensten endlich wieder im Dienst
Zehn Jahre war Jürgen Skorb arbeitslos. Daß er statt Sozialhilfe jetzt Lohn empfängt, verdankt er dem Dortmunder Modell, einer kommunalen Arbeitsbeschaffung und Jobvermittlung ■ Von Daniela Weingärtner
Die alte Dame, die verwirrt vor dem Fahrkartenautomaten rätselte, hatte Glück: Der Dienststellenleiter selbst nahm sich ihrer an. Jedenfalls sah der hilfsbereite Herr Mitte Fünfzig wie ein vorgesetzter Beamter aus. Sauber gescheiteltes Haar, Sakko und graue Flanellhose, Bügelfalte, makellos.
Wer Jürgen Skorb durch die U-Bahn-Station Dortmund-Mitte schlendern sieht, stets auf der Suche nach Fahrgästen, die er beraten kann, der denkt an Pensionsberechtigung, Kassenbeihilfe, Sicherheit in allen Lebenslagen. Im Leben von Jürgen Skorb gibt es nichts von alledem. Die dürren Daten: 25 Jahre Bulli-Fahrer, mit 45 arbeitslos, Scheidung, neun Jahre Stütze, 13 Monate Sozialhilfe. Einen guten Teil seines Berufslebens hat Skorb also in der sozialen Hängematte verbracht. Gemütlich ist das Leben trotzdem nicht gewesen. 425 Mark gab's am Ende im Monat.
Jede Hoffnung auf eine Wende hatte der 55jährige aufgegeben. Skorb ist kein Kämpfertyp. Als ihm mit 45 Jahren sein Sachbearbeiter im Arbeitsamt sagte: „Das war's“, da glaubte er ihm. Als ihn sein Sachbearbeiter im Sozialamt zehn Jahre später zur Tür mit der Aufschrift „Arbeit statt Sozialhilfe“ schickte, da wollte er sein Glück nicht glauben. Nach zwei Wochen Schulung erhielt der liebenswerte Herr mit dem bescheidenen Lächeln die drei Insignien seiner neuen Funktion: das Schild „Servicedienst im Auftrag der Stadtwerke“ am einen Revers, den blitzenden Straßenbahn-Anstecker am anderen und die Nadel in S-Bahn-Form an der Krawatte exakt dazwischen. Über Nacht war aus dem Langzeitarbeitslosen Jürgen S. ein Angestellter der „Dortmunder Dienste“ geworden, 1.800 Mark netto, Einsatzbereich Präsenzdienst der Aktion „Lebenswertes Dortmund“.
„Arbeit statt Sozialhilfe“, in dieser Form organisiert, hat nur noch wenig mit der Forderung zu tun, daß „Leistungsempfänger“ doch was tun sollten für ihr Geld. Müll einsammeln für zwei Mark Aufwandsentschädigung pro Stunde – mit solchen Auflagen haben die Sozialämter keine guten Erfahrungen gemacht. Sie eignen sich allenfalls als Drohung, wenn der Verdacht besteht, daß jemand beim Sozialamt nur abkassieren will. „Das bedeutet für uns riesigen organisatorischen Aufwand und führt doch nirgendwo hin. Die Leute kommen nicht weg von der Sozialhilfe“, sagt Werner Vorwerk, der die Abteilung „Arbeit statt Sozialhilfe“ leitet.
Der Weg, den Dortmund einschlägt, belastet die Gemeindekasse zunächst zusätzlich, bringt aber auf lange Sicht Entlastung. Die Sozialhilfekosten fressen im Ruhrgebiet seit Jahren einen Großteil der kommunalen Einnahmen. Nordrhein-Westfalen hat deshalb das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“ aufgelegt. Es soll den Gemeinden helfen, sich aus der Zwangslage zu befreien, in die sie der Bund gebracht hat. Mit den Landeszuschüssen können die Kommunen eigene Beschäftigungsgesellschaften gründen oder freie Träger für diese Aufgabe gewinnen. Immer mehr Kommunen versuchen nun, mit eigenen Maßnahmen die zusammengestrichenen Beschäftigungsprogramme der Bundesanstalt für Arbeit zu ersetzen. Da aber Arbeitslosen schneller als früher die Arbeitslosenunterstützung gestrichen wird, wächst die Zahl der Sozialhilfeempfänger schneller als die Zahl der Beschäftigungsplätze. 50.000 Sozialfälle zählt die Stadt Dortmund. 20.000 davon sind Arbeitslose, die den Anspruch auf Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung verloren haben. Also betreibt Dortmund nun Arbeitsvermittlung und -beschaffung im großen Stil.
Die Stadt hat als erste Gemeinde das Sozialamt komplett umgekrempelt. Die Sachbearbeiter sind nicht mehr nach Buchstaben, sondern nach Stadtvierteln zugeteilt und verpflichtet, drei bis vier Sozialhilfeempfänger pro Monat in ein Arbeitsverhältnis zu vermitteln. Daß Jürgen Skorb auf Fremde wirkt, als sei er schon in blauem Zwirn geboren, ist kein Zufall, sondern Ergebnis der Anstrengungen des Sozialamts und der Dortmunder Dienste GmbH: „Wir suchen Sozialhilfeempfänger, die hundertprozentig auf die Stelle passen“, erklärt Werner Vorwerk. Seine Abteilung hält engen Kontakt zu den Arbeitgebern der Region und bemüht sich, die Stärken und Schwächen der Sozialhilfeempfänger genau zu erkennen. Bestehen Zweifel am Durchhaltevermögen, werden zunächst sechs Wochen mit Aufwandsentschädigung verordnet. Wer das durchsteht, bekommt eine feste Stelle.
Für alle, die vorerst nicht fit genug sind für den ersten Arbeitsmarkt, wurde vor einem Jahr die „Dortmunder Dienste GmbH“ gegründet. Sie faßt alle Aktivitäten der Stadt in diesem Bereich zusammen. Die Arbeitsverträge sind auf ein Jahr befristet. Den Mitarbeitern begegnet man nicht nur am Fahrscheinautomaten. Sie arbeiten im Gesundheitsamt, bei der Feuerwehr, stellen Bibliotheksbestände auf Computer um und kochen in Kitas und Seniorenheimen.
Dortmund steuert 16 Millionen jährlich zum Landesprogramm „Arbeit statt Sozialhilfe“ bei, noch einmal zehn Millionen investiert die Stadt in ein eigenes Programm. Die SPD-Mehrheit im Stadtrat plant mehr: Bislang sind 1.300 Stellen im sozialen Bereich geschaffen worden, 3.000 sollen es werden. Von den 2.700 Mark brutto, die Jürgen Skorb im Monat verdient, übernimmt das Land 1.040 Mark. 425 Mark Sozialhilfe werden eingespart, bleiben Zusatzkosten von 1.235 Mark, Schulung, Verwaltung und sozialpädagogische Begleitung nicht mitgerechnet.
Was zunächst teuer aussieht, zahlt sich aus. Von 100 Sozialhilfeempfängern, die die Stadt weiterbildet, an Unternehmen vermittelt oder in eigenen Betrieben fit macht für die richtige Arbeitswelt, tauchen 80 auch zwei Jahre später nicht wieder beim Sozialamt auf. Je nach Art der Förderung dauert es zwischen 20 Monaten und drei Jahren, bis man weiß, ob die Rechnung aufgegangen ist. Hat ein ehemaliger Sozialamtskunde in diesem Zeitraum keine neue Unterstützung beantragt, sind die Kosten für seine Förderung durch eingesparte Sozialhilfe ausgeglichen.
Ob Jürgen Skorb zu diesen 80 Prozent gehören wird, kann heute niemand voraussagen. Immerhin hat er im nächsten Frühjahr, wenn sein Vertrag bei der Stadt ausläuft, eine Stelle bei einem Wachdienst in Aussicht. Der Kontakt kam über die Dortmunder Stadtwerke zustande. Hätte er auch ohne den Jahresvertrag bei den Dortmunder Diensten eine Chance bekommen? Skorb schüttelt den Kopf. „Die hätten mir doch das gar nicht zugetraut.“
Der Erfolg des Dortmunder Modells läßt die Arbeitsämter schlecht aussehen. In der Personalabteilung der Dortmunder Dienste arbeiten heute Betriebswirte, Informatiker, Sekretärinnen, die jahrelang beim Arbeitsamt gemeldet waren. Fragt man sie, warum ihnen dort niemand helfen konnte, hört man nur höhnisches Gelächter. Victoria Frangenberg zum Beispiel ist jetzt 29 Jahre alt. Schon vor zwei Jahren sagte ihr zuständiger Sachbearbeiter im Arbeitsamt, als Fremdsprachenkorrespondentin könne sie sich keine Chancen auf eine Stelle mehr ausrechnen, nicht in ihrem Alter…
Uwe Müller* schloß sein Betriebswirtschaftsstudium mit schlechten Noten ab und wurde zum Sozialfall. Zwei Jahre lang verschickte der jetzt 35jährige Bewerbungen, suchte nach einer Chance, um Berufserfahrung zu bekommen. „Das war eine mittelschwere Odyssee“, sagt er heute – und strahlt. Nach einem Jahr Systemadministration und Controlling in der Verwaltung der Dortmunder Dienste wird er sich auf dem ersten Arbeitsmarkt behaupten, da ist er ganz sicher. Sein Studienfreund sitzt noch immer zu Hause. Er wohnt in Recklinghausen, eine Beschäftigungsgesellschaft gibt es für ihn nicht.
Wenn Uwe Wallerath, der zweite Mann bei den Dortmunder Diensten, darüber nachdenkt, daß auch sein Job nur Teil des Verschiebebahnhofs ist, auf dem sich Arbeitsamt und Gemeinden die teuren Problemfälle gegenseitig zuschustern, dann möchte er den Kram schon mal hinschmeißen. Wenn der Volkswirt an all das Geld denkt, das ungenutzt versickert, weil Bund, Land und Gemeinden nur ihre eigenen Haushaltslöchern stopfen, statt mit einem gemeinsamen Konzept mehr zu bewirken, dann steigt sein Blutdruck. „Jeder denkt doch nur fiskalisch. Das Arbeitsamt schiebt die Leute in die Sozialhilfe, damit die Gemeinde bezahlen muß. Die haben doch gar kein Interesse daran, jemanden zu vermitteln. Wir dagegen drängen drauf, daß einer wenigstens ein paar Jahre seine Stelle behält. Dann ist hinterher wieder das Arbeitsamt zuständig, und wir sind erst mal aus dem Schneider.“
Wenn Uwe Wallerath aber gelegentlich den Papierkram liegenläßt und auf Spielplätzen, in Kindertagesstätten oder Seniorenheimen seine Angestellten besucht, dann treten solch bittere Gedanken in den Hintergrund. „Ist vielleicht doch nicht so schlecht, was wir hier machen“, sagt er, als Jürgen Skorb ihm seine Lebensgeschichte erzählt hat.
Wallerath träumt von einer Steuerreform der Vernunft. „Statt so was zu fördern wie das Centro in Oberhausen, eine Einkaufsstadt mit Läden, die keiner braucht, und wo allenfalls 610-Mark-Jobs bei rauskommen – warum gewährt der Staat nicht Steuervorteile für Leute, die in Sozialdienste investieren? Krisensichere Arbeitsplätze, die unsere Gesellschaft dringend braucht, noch dazu gefeit vor Globalisierung – den Küchendienst im Seniorenheim kann keiner nach Asien auslagern.“
Wie das so ist mit den Steuervorteilen, mit den gesellschaftlich wichtigen und mit den weniger wichtigen, aber um so profitablerren Arbeitsplätzen, darüber hat sich Jürgen Skorb noch keine Gedanken gemacht. Er ist schließlich erst seit ein paar Monaten Steuerzahler. Natürlich wüßte man gern, was sich in seinem Leben verändert hat, nach dem Aufstieg vom Sozialamt zum Servicedienst der Dortmunder Stadtwerke. Verändert? Da fällt ihm erst mal nichts zu ein. Aber dann blitzt das bescheidene Lächeln auf und auch ein bißchen Stolz: 4.500 Mark hat er schon auf dem Konto – das ist doch was.
Sparen – ist das wirklich das einzige Hobby, das der Mann sich gönnt? Er lächelt. „Im Kleingarten sitzen wir immer. Das geht so reihum, jeder ist mal mit zahlen dran. Da hab' ich immer beigesessen wie so'n Parasit. Die anderen haben mich nie was spüren lassen. Aber jetzt ist das doch anders. Da fühlt man sich wieder als Mensch.“
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