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Der geteilte Kreml

Die Zeiten, wo in Rußland alle Macht vom Kreml ausging, sind vorbei. Die Regionen trotzen dem Zentrum immer mehr Kompetenzen ab. Die neue Formel vom „Vertragsföderalismus“ hat auch den politischen Umgangsstil massiv verändert  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Boris Jelzin war in bester Laune, er strahlte. So glatt und erfreulich wie in Saratow war seit langem kein Besuch mehr verlaufen. Keine wütenden Bergarbeiter bedrängten ihn, keine zeternden Lehrerinnen verlangten endlich ihren Lohn. Selbst die sonst allgegenwärtig wutschäumenden Rentnerinnen, die auch in Anwesenheit des Staatsoberhaupts kein Blatt vor den Mund nehmen, schenkten dem Gast aus Moskau diesmal ein unerwartetes Lächeln. In Saratow, an der unteren Wolga, stellte der Kreml-Chef zufrieden fest, ist alles wieder im Lot.

Der Hofstab hatte die Stippvisite mit Bedacht in die Wolgastadt gelenkt. Als Teil eines Motivationsprogramms sozusagen. Der Präsident braucht hin und wieder ein Erfolgserlebnis. Die Strategie ging auf. Als Saratow dem scheidenden Besucher dann eine aus Kristall nachgebildete Zarenkrone überreichte, war es um Gefühlsmensch Boris geschehen. Die Krone war ihm zu klein, spontan verhieß er: „Es ist an der Zeit, den Subjekten der Föderation mehr Rechte einzuräumen und deren Selbständigkeit weiter voranzutreiben.“

Rußlands föderaler Aufbau, die Rechte der 89 Subjekte – darunter 21 Republiken, 49 Gebiete, 6 Kreise, 2 Städte und 10 autonome Bezirke –, ist ein heiß umstrittenenes Thema. Seit Jahren ringt die Provinz mit dem Zentrum um mehr Autonomie. Den Startschuß hatte Jelzin selbst vor Jahren abgefeuert. In der machtpolitischen Rangelei mit dem geschwächten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gelang es dem damaligen Volkstribun, die autonomen Regionen innerhalb Rußlands auf seine Seite zu ziehen: „Nehmt euch soviel Souveränität, wie ihr schlucken könnt!“ umwarb er sie Anfang der 90er.

Die Republiken, die nach der Titularnation benannt sind, in denen aber meist Russen die ethnische Mehrheit stellten, griffen das Angebot begeistert auf. Eine „Souveränitätenparade“ setzte ein, in deren Verlauf sich die meisten Regionen zu souveränen Staaten oder Republiken erklärten. Tatarstan trat sogar ganz aus Rußland aus, die Tschetschenen verkündeten wenig später ihre völlige Unabhängigkeit. Kurz darauf zerfiel die UdSSR in ihre Bestandteile.

Was Jelzin mehr aus kurzfristigem Machtkalkül aufgeworfen hatte, ohne die Konsequenzen zu bedenken, weitete sich zu einer schwerwiegenden Identitätskrise aus. Das Schicksal der UdSSR vor Augen, fürchtete Moskau, auch das Mutterland würde sich auflösen oder zumindest in „Teilfürstentümer“ zerfallen. Der Föderalismus, ursprünglich als Therapiemodell auserkoren, wandelte sich in ein Bedrohungsszenario. Der blutrünstige Feldzug gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik Tschetschenien Ende 1994 schien die Skeptiker zu bestätigen: Rußland schlittert unaufhaltsam in die Desintegration.

Die Katastrophe trat nicht ein. Trotz ordnungspolitischer Schwäche, anhaltender Zahlungskrise, worunter besonders Staatsbedienstete in den Provinzen zu leiden haben, Produktionsrückgang und einer blamablen militärischen Schlappe im Kaukasus überstand der Staat die Zeit der Wirren. Nicht einmal die politische Elite im Kreml wurde ausgewechselt. Das deutet auf ein Stabilitätsreservoir hin, das bei den täglichen Krisenmeldungen übersehen wird. Maßgeblich hat dazu die stetige Verlagerung von Macht und Kompetenzen aus dem Zentrum in die Regionen beigetragen.

Moskau zögerte und trat nicht eben aus freien Stücken den Zugriff auf Ressourcen und den Einfluß auf die regionale politische Elite ab. Es wurde gefeilscht und gedroht, Sanktionen wurden verhängt und schließlich wieder verhandelt. 1993 gab sich Rußland eine Verfassung, die es zu einem föderalen Staatswesen erklärte. Ein zuvor geschlossener Föderationsvertrag wurde in die Verfassung mitaufgenommen.

In der russischen Geschichte stellte das einen Meilenstein dar. Erstmals entschloß sich der Kreml, mit den Provinzen zu verhandeln, um einen Interessenausgleich zu finden. Alle Subjekte des Bundesstaates sind der Verfassung nach gleichberechtigt, in Wirklichkeit rangieren die Republiken indes über den anderen Subjekten. Sie verfügen über eine eigene Verfassung, die übrigen Mitglieder lediglich über ein Statut. Besonders im wirtschaftlichen Bereich genießen die Republiken daher weit mehr Freizügigkeit. 1994 eröffnete Jelzin eine Offensive. Gegen erhebliche Konzessionen ließ sich Tatarstan wieder eingliedern. Der Vertrag machte Schule. Seitdem ging die Zentralgewalt dazu über, auch mit anderen Republiken bilaterale Abkommen zu schließen. Wobei auf die besondere Situation der Region achtgegeben wurde und wohl auch nicht in unbeträchtlichem Maße der Widerstand der politischen Elite vor Ort mitberücksichtigt werden mußte. So gelang es immerhin, den separatistischen Bestrebungen in Baschkortostan und Jakutien den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die sibirische Republik Jakutien verfügt über immense Vorkommen an Gold und Diamanten, die sie höchst widerwillig mit Moskau teilt. Zwar konnten die politischen Zwistigkeiten ausgeräumt werden, um die Abgabequote entsteht indes jedes Jahr neuer Streit. Keine Republik genießt aber so weitreichende Vollmachten wie Tatarstan, dem der Status einer souveränen Republik zugebilligt wurde. Deren Bürger sind nun Staatsangehörige Tatarstans, das politische Entscheidungen in völliger Selbstbestimmung treffen kann. Tatarstans Hauptstadt Kasan verfügt seither über Haushalt und Steuereinnahmen selbst und wickelt außenwirtschaftliche Beziehungen in Eigenregie ab. Wichtiger jedoch, es entscheidet allein über die Nutzung seiner Bodenschätze.

Das Modell, so schwebt es Jelzin vor, soll auch die Blaupause liefern für die ungeklärten Beziehungen zu Tschetschenien. Die Kaukasier möchten davon aber noch nichts hören und lehnen auch eine lockere Assoziation mit Rußland ab. Die Privilegien der nationalen Republiken riefen unterdessen die großrussischen Gebiete (Oblast) auf den Plan, die sich hintangestellt fühlten. In Sibirien schlossen sich wirtschaftlich mächtige Gebiete unter der Ägide des Gouverneurs von Swerdlowsk (Jekaterinburg) schon 1993 zusammen und riefen eine „Ural-Republik“ aus.

Der Drang, sich vom Zentrum abzugrenzen, hat in Sibirien Vorläufer. Im 19. Jahrhundert forderte die Bewegung der Oblastnitschestwo mehr Autonomie. Um ihre Sache voranzutreiben, konstruierte sie gar ein sibirisches Ethnos, das sich von den europäischen Russen unterscheiden sollte. Und doch drehte es sich auch damals nur um die alleinige Verwertung der Bodenschätze.

Jelzin duldete die Eskapaden des Gouverneurs zunächst, weil er die Unterstützung der Gebietsfürsten 1993 im Kampf mit dem aufmüpfigen Parlament in Moskau brauchte. Wieder sicher im Sattel, hob er den Republikstatus auf und setzte Gouverneur Eduard Rossel einfach ab. Ein klares Konzept, wie mit den Gebieten insgesamt zu verfahren sei, exisitierte nicht. Der Kreml ließ sich von opportunistischen Erwägungen leiten: Was nützt dem Machterhalt?

Bis zu den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr. Wieder buhlte Jelzin um die Gunst der Gouverneure. Am Ende regelten vierzehn Gebiete ihr Verhältnis zu Moskau in Kompetenzabgrenzungsverträgen. Darunter auch Swerdlowsk mit dem wiedergewählten Gouverneur Rossel. Ein Durchbruch war erzielt. Die Verträge gleichen sich: Ehemals der Föderation vorbehaltene Kompetenzen werden nun gemeinsam geregelt, was zuvor gemeinschaftlich entschieden wurde, ging in die Zuständigkeit der Subjekte über. Darüber hinaus konnte jedes Gebiet seine besonderen Interessen einbringen.

Swerdlowsk erhielt sogar die Zusage, weniger Steuern abführen zu müssen, wenn die Föderation ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Langfristig fördern die Verträge Einvernehmen und Verständnis zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Seit 1996 nimmt der russische Föderalismus deutlichere Konturen an. Moskau tritt nicht nur Vollmachten ab, sondern beteiligt die lokalen „Fürsten“ an der Verantwortung für die Geschicke der Föderation.

Von der westlichen Öffentlichkeit kaum bemerkt fanden im Anschluß an die Präsidentenwahlen bis ins Frühjahr 1997 auch Gouverneurswahlen statt. In der russischen Geschichte ebenfalls ein Novum. Der Zar ernannte seine Beamten zu Statthaltern in der Provinz, auch Boris Jelzin folgte dieser Praxis. Die gewählten Gouverneure besitzen nun eine weitaus stärkere Legitimation, die sie in der Auseinandersetzung mit dem Zentrum auch einsetzen werden.

Die alte „Politik der Knute und des Pfefferkuchens“, wie die Russen sagen, wird nicht mehr greifen. Zumal die Provinzchefs erhebliche Machtbefugnisse und Privilegien in ihren Händen halten. Sie kontrollieren den Haushalt, setzen die föderalen politischen Entscheidungen vor Ort um und sind relativ ungebunden in ihren Personalentscheidungen. Moskaus föderale Bürokraten frohlockten nicht gerade, als Jelzin auf den Wahlen beharrte. Ein gewählter Gouverneur sei kein Beamter mehr, warnten sie, sondern ein Politiker mit eigenen Überzeugungen... So kann ein mißliebiger Provinzchef nicht mehr wie bisher einfach abgesetzt werden. Hat er gegen das Gesetz verstoßen, muß ein Verfahren gegen ihn eingeleitet werden.

Das Wahlergebnis bescherte der Partei der Macht im Kreml weder Sieg noch Niederlage. Von den 52 neu zu wählenden Gouverneuren und Republikspräsidenten wurden 24 im Amt bestätigt. 15 Posten gewannen Kandidaten der nationalistischen und kommunistischen Opposition. Der Rest ging an Vertreter, die den Reformkurs mehr oder weniger befürworten.

Die komfortable Mehrheit jelzinhöriger Administratoren im Föderationsrat, dem Oberhaus der Duma, gehört der Vergangenheit an. Laut Verfassung ziehen die Vorsitzenden der regionalen Parlamente und die Chefs der Exekutive automatisch in die zweite Kammer ein. Die Wahlen zu den Territorialparlamenten laufen gerade an. Von ihrem Ausgang hängt es ab, ob sich die Opposition eine Mehrheit sichern kann, die ausreicht, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Und ob sie daran überhaupt interessiert ist.

Generell läßt sich in der Haltung des Zentrums nämlich eine Tendenzwende beobachten. Moskau legt inzwischen größeren Wert auf die Professionalität der Verantwortungsträger als auf ihre parteipolitische Zugehörigkeit. Im Juni schwollen in der Region Primorje im Fernen Osten die Klagen der Bevölkerung zu Massenprotesten an. Wochenlang lieferten die Elektrizitätswerke keinen Strom oder nur sporadisch. Die Verwaltung hatte ihre Rechnungen nicht beglichen. In dem Durcheinander von wüsten Anschuldigungen gelang es nicht, den Verantwortlichen dingfest zu machen. Gouverneur Jewgeni Nasdratenko, der nicht das erste Mal wegen dubioser Machenschaften ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, wollte damit nichts zu schaffen haben. Moskau riß der Geduldsfaden. Jelzin beauftragte seinen persönlichen Vertreter in Wladiwostok, die Angelegenheit zu bereinigen. Der Föderationsrat tobte und forderte den Präsidenten auf, das Dekret zu widerrufen. Die Senatoren – egal welcher Couleur – bildeten eine Phalanx. „Nasdratenko mag nicht gerade gute Arbeit leisten, aber nach vier Jahren merken das auch die Bürger und wählen jemand anders“, kommentierte ein regierungstreuer Gouverneur. Eduard Rossel, bekannt für seine radikale Haltung, sah bereits einen Präzedenzfall vorliegen: „Der Kreml sucht nach Wegen, gewählte Senatoren zu beseitigen.“ Noch wird um Positionen gerungen, was die Wahrheitsfindung im Einzelfall beträchtlich erschwert.

Kritiker verweisen dieweil darauf, kriminelle Banden könnten unter dem Schutz korrupter Verwaltungschefs ihren Einfluß noch verstärken. Die Gefahr besteht, sollte aber nicht als Grund dienen, die Entflechtung des riesigen Landes aufzuhalten. Jüngere Statistiken belegen, Regionen, die sich früh Autonomie ertrotzten konnten, fahren bereits die ersten Früchte ein. Wirtschaftlich geht es ihnen besser als den Spätentwicklern. Ethnische Spannungen, die Anfang der 90er Jahre noch das Verhältnis zum Zentrum beherrschten, haben sich in den wohlhabenderen Regionen entschärft.

Der eingeschlagene Weg des Vertragsföderalismus fördert nicht nur die gegenseitige Verantwortung, ganz nebenbei verändert er auch noch den politischen Umgangsstil: Interessenausgleich durch Diskussion. Für Rußland eine ganz neue Erfahrung. Das Selbstvertrauen der regionalen Elite spricht indes für sich. Saratows Gouverneur Dmitri Ajazkow meinte zum Abschluß des Jelzin- Besuchs, sollten die Vollmachten des persönlichen Beauftragten des Präsidenten in Saratow erweitert werden, „liquidiere ich diesen Posten, weil er verfassungswidrig ist“. Jelzin hat es in Saratow trotzdem gefallen.

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