: Eine Tortur namens Flower Power
■ Er war Andy Warhols erster Superstar, Patti Smiths zweiter Zuhörer und Jane Bowles dritter Prophet: Der New Yorker Lyriker John Giorno liest heute abend im Moments aus seinen Gedichten und Erinnerungen
Die Reihe seiner Freunde und Mitarbeiter bei den verschiedensten Projekten liest sich wie das „who is who?“der New Yorker Pop-Avantgarde der 60er Jahre: Andy Warhol, Allen Ginsberg, William Burroughs, Patty Smith und Tom Waits. Vor allen Dingen aber versuchte John Giorno, die Poesie aus dem Elfenbeinturm zu schmeißen. Wie ihm das gelungen ist, schilderte er im taz -Gespräch.
taz: Mr. Giorno, ich bin vielleicht der perfekte Zuhörer für Sie, denn ich mag keine Poesie. Sie wurde mir in der Schule so ausgetrieben, daß ich heute kaum noch Texte lesen kann, die auch nur entfernt wie die Zeilen eines Gedichts aussehen. Und Sie versuchen ja genau solche Menschen wie mich zur Lyrik zu bekehren.
John Giorno: Genau! Schon mit 14 Jahren hielt ich die Poesie für die Essenz von Schönheit und Weisheit, aber zugleich war sie so fürchterlich langweilig. Ich glaubte, sie wäre 75 Jahre hinter den anderen Künsten wie Malerei, Theater, Tanz und Musik zurückgeblieben; außer zu dichten taten Poeten garnichts, und es gab keinerlei Kommunikation zwischen ihnen und dem Publikum. So kam ich etwa 1968 auf die Idee, einen Telefondienst für Lyrik einzurichten, und meine Aktion „Dial-a-Poem“wurde durch einige sehr hilfreiche Artikel in den New Yorker Zeitungen solch ein Erfolg, daß auf unseren zwölf Leitungen am ersten Tag 200.000 Anrufer beinahe das Telefonsystem von ganz Manhattan zusammenbrechen ließen. Wir ließen Tonbänder mit den Gedichten von 200 amerikanischen Poeten ablaufen, und dies war die erste Aktion, bei der das Telefon für etwas anderes als die normale Eins-zu-eins-Kommunikation genutzt wurde. Auf dem von uns so entwickelten Prinzip basiert heute die ganze Telefondienst-Industrie.
Und Sie gehörten zu den ersten, die Poesie durch Musik populär machten?
Wir wollten einfach, daß Dichtung zum normalen Leben gehören sollte. Es liest kaum jemand jeden Tag in einem Gedichtband, aber man hörte in den 60ern überall Rock-n-Roll-Musik, und das nutzten wir einfach aus. Viele Poeten wie etwa Tom Waits wurden damals zu Musikern. Ich kann mich an eine Lesung von Patti Smith in einer kleinen verqualmten Bar erinnern, bei der sie sich für die letzten zwei Gedichte von einem Gitarristen mit einem fürchterlich krachenden Verstärker begleiten ließ, und sie erhob dabei ihre Stimme ein wenig. Das war der Anfang, Atem wurde zum Lied!
Sie waren der Hauptdarsteller in Andy Warhols erstem Film „Sleep“, in dem man Sie sechs Stunden lang schlafen sieht. Waren Sie sein erster Superstar?
Ja, und auch der erste, den er wieder fallen ließ. Und ich kann mich glücklich schätzen, daß ich dannach gleich William Burroughs kennenlernte und durch ihn in eine ganz andere Szene kam. Alle späteren Geschöpfe von Andy gingen buchstäblich ein, wenn er sich von ihnen abwandte. In den frühen 60er Jahren entwickelte sich in New York das Underground-Kino. Andy fand das alles furchtbar langweilig und besorgte sich selber eine Kamera. Wir waren damals fast jeden Tag zusammen, Andy war ständig auf Speed, und ich trank viel, so daß er immer wach war und ich viel schlief. Und nachdem er mich eine ganze Nacht lang mit riesigen Augen beim Schlafen beobachtet hatte, kam er auf die Idee von „Sleep“. Andy war clever und wußte, daß er damit einen Skandal verursachen und sich so einen Namen machen würde.
Bei Ihrem Auftritt heute abend tragen Sie in erster Linie Ihre Prosatexte vor, Erinnerungen an Ihre verstorbenen Freunde und Kollegen. Sind Sie ein nostalgischer Chronist, der berichten muß?
Ich bin mit einem außerordentlich guten Gedächtnis gesegnet, und so kann ich mich wortwörtlich an Gespräche erinnern, die ich vor 30 Jahren geführt habe. Und als Andy Warhol 1987 starb, wurde mir bewußt, daß viele Erinnerungen für immer verschwinden würden, wenn ich sie nicht aufschreiben würde. So habe ich kleine Szenen und Gespräche dokumentiert: Ein Text über Keith Hearing oder ein anderer über Jane Bowles in den frühen 60ern in Tanger, in dem ich anhand der ersten Anzeichen dafür zu erklären versuche, warum sie bald danach verrückt wurde. Ich lese zwei Texte über Burroughs, und zwischen diesen Erinnerungen plaziere ich einige Gedichte, die dann eine ganz andere Energie haben. Aber nostalgisch bin ich eigentlich nicht nach den Zeiten, in denen ich jung war, gevögelt habe, als all diese Berühmtheiten noch lebten, mit mir Kunst schufen und Drogen nahmen. Niemand redet heute darüber, wie unglücklich wir alle in den 60ern waren. Flower Power war eine einzige Tortur.
Fragen: Wilfried Hippen
John Giorno liest heute, 20. Oktober, um 20 Uhr im Moments
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