piwik no script img

Sightseeing mit Erdbeben-Garantie

Die Katastrophengebiete Mittelitaliens sind zu einem beliebten Ausflugsziel geworden. Doch die Hilfe für die Menschen in Zelten oder Containern läuft nur schleppend. Inzwischen ist mit dem Regen auch die Kälte gekommen  ■ Aus Umbrien Werner Raith

Fulvio Maltempi, Bürgermeister von Sellano im mittelitalienischen Umbrien, wartet jetzt nur noch auf eines: „Daß die Reisebüros in aller Welt zum Besuch von Rom und Florenz auch noch eine Visite bei uns einfügen, nach dem Motto: ,Erleben auch Sie das Beben selbst, neue Erdstöße werden vom Veranstalter garantiert‘.“ Einer von Maltempis Gemeinderäten könnte der Idee sogar etwas abgewinnen: „Dann verlangen wir einfach Eintritt und nutzen das Geld für den Wiederaufbau.“

Galgenhumor in den am meisten vom Erdbeben betroffenen Dörfern und Städten Italiens gehört inzwischen zum Alltag, fast so wie die mittlerweile 2.000 Stöße, die die Erde hier seit Ende September getan hat. Geradezu skurril die sonntäglichen Szenen: oben auf den Hügeln zerbröselte Häuser, abgebrochene Kirchtürme und umgekippte Autos; etwas weiter unten auf künstlich angelegten Plattformen die Notunterkünfte aus blauem Zelttuch und hellgrauen Containern – und noch weiter unten, vor den Absperrungen, die die Zufahrt zum Ortszentrum blockieren, Hunderte geparkte Autos, mit unzähligen herumstehenden Menschen, die nur auf eines warten: daß die Erde wieder wackelt. Denn nichts zählt in diesen Tagen mehr als der Satz: „Und ich war auch da, als es gebebt hat“.

In Sellano, Epizentrum des jüngsten schweren Stoßes vor vier Tagen, haben sich die Menschen mittlerweile auch mit den Gaffern abgefunden. Sie warten nun auf die Ankunft von Staatssekretär Enrico Micheli, den Ministerpräsident Romano Prodi mit der Koordination der Erdbebenhilfe beauftragt hat. Am ersten Tag, sagt Bäuerin Anunziata, habe sie noch „eine Sauwut gehabt, einem Reporter habe ich mit dem Schirm Prügel angedroht, wenn er uns in unserem Elend aufnimmt“. Doch mittlerweile sieht sie über die Voyeurs einfach weg.

Sie plagt vielmehr ein anderes Problem: „Sitzen wir vielleicht alle auf einem Vulkan?“ hatte der Pfarrer einer Nachbargemeinde beim Gottesdienst im Freien gefragt, und ganz nach Art der Fin- de-siècle-Phantaisen hatte er alles auf eine „Strafe Gottes für die gottlose Menschheit unserer Tage“ zurückgeführt. Eine „Massenhysterie“ sei daraufhin ausgebrochen, berichten Feuerwehrleute.

Doch die Frage an sich ist durchaus ernstzunehmen: Warum bebt die Erde diesmal so lange? Seit Ende September kommt sie in Umbrien nicht zur Ruhe. Die Erdbebenkundigen behaupten zwar, derlei sei durchaus nicht ungewöhnlich, schließlich habe es nach dem letzten großen Beben in dieser Gegend 1979 noch volle vier Monate weitergestoßen, mit einem recht heftigen Abschlußrums am Ende der seismischen Setzung. Doch warum, fragen die Skeptiker zurück, hatten just diese Erdbebenforscher nach dem ersten Stoß am 26. September vorausgesagt, daß nur noch kleinere Nachbeben zu erwarten seien? Statt dessen hatte es schon am Tag danach eine noch größere Erschütterung gegeben, mit acht Todesopfern.

Bürgermeister Maltempi breitet die Arme aus: „Erdbeben sind halt unvorhersehbar.“ Da allerdings tönt ihm, wie wenig später auch dem Staatssekretär Micheli – ein Chor von Protest entgegen: Bereits am 12. September 1997, zwei Wochen vor dem verheerenden Beben, hatte der Journalist Alberto Laganá in dem Wochenblatt Umbria sette Giorni vor einem „möglicherweise katastrophalen Stoß“ gewarnt, nachdem es am 4. September ein leichtes Beben geben hatte: kein Experte, aber ein Mann mit gutem Gedächtnis, der die Vorereignisse des großen Bebens von 1979 nachgelesen und Analogien gefunden hatte. Warum niemand darauf eingegangen ist, bleibt wieder einmal das Geheimnis der Fachleute.

Immerhin, tröstet der Bürgermeister seine Mitbürger, habe es in seiner Gemeinde keine Todesopfer gegeben, nicht einmal ernsthaft Verletzte, trotz eines Bebens der Stärke 8 der Mercalli-Skala, stärker als dasjenige, das vor drei Wochen die Kathedralen von Assisi fast zum Einsturz gebracht hatte. Sellano gehört zu jenen Städtchen, die nach dem großen Beben 1979 nahezu vollständig nach erdbebenkundlichen Sicherheitsnormen aufgebaut worden sind. Trotzdem müssen nun viele Häuser erneut abgerissen werden. „Erdbebensicher heißt nur“, sagt der Bürgermeister, daß sie bis zum 5. Grad der Mercalli-Skala intakt bleiben; und bis zum 7. Grad muß die Gesamtstruktur soweit halten, daß in den Wohnzellen niemand zu Tode kommt.“

Für die Menschen ist das bloße Überleben, nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt haben, kein ausreichender Trost mehr. Zwar hat der italienische Staat inzwischen Hilfe versprochen, umgerechnet 30.000 Mark soll bekommen, wer sein von den Behörden als „wiederaufbaubar“ eingestuftes Gebäude instandsetzt – „ein reiner Hohn“, sagt ein Gemeindeangestellter, „als ich vor drei Jahren mein Dach habe ausbessern lassen, hat allein das mehr als diese Summe gekostet.“ 300.000 Mark soll erhalten, wer seinen Betrieb wieder produktionsfähig macht – „selbst in einer Autowerkstatt kosten neue Maschinen oft schon das Doppelte“.

Und wie sollten die Geschädigten am Ende auch nicht unzufrieden sein, „wenn die Regierung mittlerweile die Gesamtschäden auf mehr als 2,2 Milliarden Mark schätzt, aber nur 800 Millionen als Wiederaufbauhilfe geben will?“ fragt ein Stadtrat.

Unzufriedenheit bis Wut herrscht auch über die bisherige allererste Nothilfe. Mehr als 20.000 Häuser sind beschädigt, an die 100.000 Menschen haben ihr Dach über dem Kopf verloren; nach amtlicher Angabe sind aber nur 38.000 Menschen „wirklich obdachlos“, wie Staatssekretär Micheli den Bürgern von Sellano erklärt: der Rest ist wohl bei Verwandten untergekommen oder hat sich einen Wohnwagen oder Container auf eigene Rechnung angeschafft und campiert möglichst in der Nähe der eigenen Wohnung – Plünderer treiben ihr Unwesen seit dem ersten Tag.

Die Hilfe wird von Rom aus koordiniert. Doch Rom braucht für die Koordination Zeit, weshalb bisher erst knapp 500 Container angeliefert wurden – 1.000 stehen angeblich auf Abruf bereit, 2.000 sind geordert.

Inzwischen ist der Regen gekommen, in den höheren Lagen Umbriens ist bereits Schnee gefallen. Zwar zeigen die Fernsehberichte tagtäglich neu anrollende Container-Konvois, doch beziehbar sind diese noch längst nicht: 36 Quadratmeter, ein Wohn- und zwei Schlafzimmer, Küche und Toilette wollen schließlich erst mal an Strom angeschlossen, mit Heizung, Gas und Wasser versorgt werden. Inzwischen wohnen die Menschen in den Zelten, in denen auch mit kleinen Gasöfen nicht mehr als acht oder zehn Grad herrschen.

Staatssekretär Micheli verweist denn auch auf eine auf den ersten Blick kluge Lösung: Wo immer möglich, werden schon bestehende oder ehemalige Camps vergrößert oder reaktiviert – schließlich gibt es in der Nähe aller größeren Städte Lager für Nichtseßhafte, auch sind die Notunterkünfte von 1979 noch „irgendwo“ vorhanden.

Ein paar Leute aus Sellano wollen sehen, ob man da vielleicht etwas beschleunigen kann, schließlich liegt Foligno, wo das nächste ehemalige Lager sein woll, nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt. Doch auch das Gefolge des Ministers weiß nicht so recht, wie man das Depot genau findet. In der Nähe des Friedhofs soll es sein, an der Via Flaminia.

Da ist zunächst nichts zu sehen. Durch Gestrüpp und zugewachsene Wege geht es auf eine Art Acker, dann erkennt man die grauen Wände. Doch als viel mehr als einen Haufen Blech kann man diese Hütten nicht mehr bezeichnen: alle Fenster zerbrochen, Teile der Wände herausgerissen, innen ist alles muffig und voller Schimmel. „Vier Wochen mindestens bis zur Restaurierung“, sagt ein Bauunternehmer, der normalerweise seine Leute in derartigen Hütten unterbringt. Staatssekretär Michelis Experten werden etwas kleinlaut, als die Leute aus Sellano fragen, ob etwa diese Container auch zu den 1.000 gezählt werden, die angeblich auf Abruf bereitstehen – sie gehören in der Tat dazu.

So verweisen die Ministerialen hoffnungsvoll darauf, daß man „in anderen Camps, solchen, die es schon gibt und die funktionieren, wesentlich weiter ist“. In San Pietro etwa, da wo der Dorfpolizist Michele Basile hergekommen war. Das Camp liegt ebenfalls nahe Foligno und ist sehr groß – 1.400 Menschen wohnen jetzt hier, mehr als ganz Sellano Einwohner hat. Doch schon am Eingang fällt auf, daß hier nicht so alles ganz reibungslos geht: Beamte der Staatspolizei fahren Patrouille, an die zehn Stadtpolizisten tun Streifendienst, die Menschen ziehen eiligst den Zelteingang wieder zu, wenn sie hinaustreten.

Mißtrauen herrscht hier, mehr noch als Angst vor dem Beben: Zelt an Zelt wohnen die Erdbebenopfer hier nämlich mit Albanern, Makedoniern, Nordafrikanern, in einer Ecke ist auch ein Zentrum für Drogenabhängige eingerichtet: Nachbarschaft mit Menschen, mit denen die Dörfler Umbriens nahezu nie Kontakt hatten. „Girone dei dannati“ nennen die Leute aus Foligno das Camp, Stadtteil der Verdammten. „Also wenn's nur für ein paar Wochen ist“, sagt ein Mann, der nur den Kopf aus dem blauen Zelt steckt, „dann geht's ja. Aber auf die Dauer mit denen da ...“ Er schüttelt den Kopf. Dann streckt er einen Arm heraus und zeigt, was er in der Hand hat: ein langes Messer. „Ohne das jedenfalls geh' ich nicht hinaus.“

Ein Polizist bedeutet ihm, das Mordwerkzeug sofort wieder einzuziehen. „Sie werden's auch noch lernen“, sagt er, „schließlich sind die Leute, die vorher hier eingewiesen wurden, auch nicht ganz freiwillig hier. Und haben auch gelernt, zusammenzuleben, Monate, Jahre.“

Der Polizist weiß, wovon er spricht: seine Familie war bei dem Erdbeben 1979 obdachlos geworden, in ein paar Wochen sollten sie in ihr Dorf zurückkehren. Doch mehr als vier Jahre hatten sie dann in Containern gewohnt. Und so, meint er, wird es auch diesmal wieder gehen.

Niemand widerspricht ihm. Auch nicht die Leute aus dem Ministerium.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen