piwik no script img

Exkommuniziert im Heimatland

■ Grass ergeht es in Deutschland wie Kemal in der Türkei

Der Kanzler war des Lobes voll: „Allen Anfeindungen zum Trotz“ habe der Schriftsteller stets seine „aufrechte Haltung bewahrt“ und sich nie „die Freiheit des Gedankens und des Wortes“ nehmen lassen. Die Würdigung galt Yașar Kemal, dem Schriftsteller aus dem fremden Land. Kemals Laudator, Günter Grass, schüttet Kohls Partei dafür jetzt mit Schmähungen zu. So geht's dem Künstler im eigenen Land, Grass und Kemal gleichermaßen: zwei alte, widerborstige Poeten, knorrig aufrecht, politisch unbequem, zutiefst moralisch – Nestbeschmutzer im jeweiligen Heimatstaat.

Grass ist polemische Injurien gewohnt. Seit Ludwig Erhard in den 60ern gegen die schreibenden „Pinscher“ hetzte, können Politiker-Ausfälle kaum noch erschüttern. „Intellektueller Tiefgang“, plustert Kohls Generalsekretär Hintze ob Grass' Kritik an der deutschen Asyl- und Abschiebepraxis, „unsachliche Ausfälle gegen die Bundesrepublik“. Einem türkischen Schriftsteller mag man deutliche Worte nachsehen, einem deutschen nicht. Darauf steht – mindestens – die nationale Exkommunikation.

Angesichts der aufgeregten Reaktionen wird der 70jährige Poet in seinen Schnäuzer schmunzeln: Touché! Mit wenigen markigen, nicht sonderlich geistreichen, aber wahren Worten den Nerv getroffen! Günter Grass hat den Common sense durchbrochen, wonach Ausländer- und Asylpolitik nur noch zu einem taugen: zum Ruf nach schärferen Gesetzen, schnellerer Abschiebung, höheren Mauern. Er hat, und das ist unzeitgemäß geworden, das „Schmuddelthema“ Asyl und Abschiebung angefaßt und mit dem Finger gegen den gesellschaftlichen Mainstream gezeigt.

Das wenige, was Grass gesagt hat, ist zur Spitzenmeldung geworden – und das ist das eigentliche Politikum. Grass wird gehört, weil der Chor der anderen schweigt. Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle haben sich absentiert aus dem politischen Leben.

Während sie in Frankreich etwa eine Bewegung für die menschenwürdige Behandlung von Immigranten initiieren, beschäftigen sie sich hierzulande – je jünger, je lieber – mit sich selbst und der Kunst. Insofern hat Peter Hintze recht, Grass habe sich mit seiner Kritik „endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender Literaten verabschiedet“. Genau das ist das Blamable, für die Literaten. Vera Gaserow

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen