■ Normalzeit
: Hexenkessel Berlin

So lautet der Titel der neuen Serie der Montagsillustrierten Focus. Und da ist natürlich wieder von Nutten noch und nöcher, von Sado-Mafia-Orgien in Sachertorten, von heißen In-Parties in stillgelegten Nazi-Folterkellern und von absolut schrillen Typen (wie Diepgen und Landowsky) sowie schrägen Vögeln (Pieroth und Schönbohm), aber auch von so seriösen Großunternehmen wie Tempodrom, Hanfhaus und UFA-Fabrik die Rede.

Die taz ist dagegen eher mehr als weniger auf Nörgelkurs: Das „Berlin-Szenario (2000)“ wird schon wieder nach unten korrigiert – von der Super-World- High-Tech-Service-Metropole zum bloßen „Regionalzentrum- Ost“ am Rande Europas. Die Berliner Zeitung setzt sogar noch eine Unke drauf – seit ihrem forschen Facelifting argumentiert sie quasi direkt von New York aus – und bemängelt, daß das Stadtmarketing-Konzept der „Partner für Berlin GmbH“ sich immer noch an der „Pro Ruhrgebiet“- Kampagne“ orientiert. Zum Schluß darf ihr Chef Hassemer jedoch baldige Besserung geloben: Er „erzählt von einer neuen Werbeidee, einer ganz großen, die mit New York zu tun hat. Mehr will er nicht verraten.“ Davor wird jedoch gnadenlos jede seiner Schummeleien entlarvt: „Die Besucher der ,Schaustelle‘ werden ,Botschafter für Berlin‘, aus einer durchschnittlichen Rede von Roman Herzog wird die historische ,Berliner Rede‘, und die Besucherzahl der Schaustelle wird von 20.000 auf 500.000 erhöht, indem einfach die Teilnehmer von Stadtrundfahrten, Straßenfesten und Ausstellungen mitgezählt werden.“

Von oben ist also außer statistischem Lug und verbalem Trug nicht viel zu erwarten, aber von unten? – Dorthin schickte die Berliner Zeitung neulich ihren Starreporter Osang, der sich daraufhin nach langem Schweigen wieder mit einem ganzseitigen Artikel zurückmeldete: über „das größte Frühstück der Welt“ im Berliner Olympiastadion, arrangiert von einer Margarinefirma. Überhaupt hagelte es heuer Guinness- Rekorde in der Hauptstadt, wo im übrigen auch die deutsche Redaktion des proletarischen Who's who, „Guinnessbuch“, residiert (am Kreuzberger Wassertorplatz). In der inzwischen pleite gegangenen ägyptischen Plastikpyramide auf dem Schloßplatz in Mitte lag „das größte Gästebuch der Welt“ aus; in der Neuköllner Karl-Marx- Straße wurde „die längste Biertheke der Welt“ aufgebaut; und auf dem Kurfürstendamm sorgte „der längste Laufsteg der Welt“ für so dumpfe Springer-Schlagzeilen wie „Längster Laufsteg der Welt“.

Harro Schweizer, der Guinnessbuch-Redakteur, meint: „Wir werden immer wieder gerne als Sauregurkenzeit-Füller benutzt.“ Anfangs waren es vorwiegend Individuen, Vereine, Freiwillige Feuerwehren und Gemeinden, die sich an immer neuen Rekorden versuchten. Jetzt haben auch die ins Event- Marketing drängenden Firmen das Terrain erfaßt. Der Guinnessbuch-Redaktion ist es recht: Man will dort sowieso weg vom Höher- Länger-Schneller und hin zum „Rekord als soziales Ereignis“. Und wenn derartige Events von den Massen angenommen werden, dann ist das genauso einen Eintrag ins Guinnessbuch würdig wie beispielsweise die Erfindungen des 1992 gestorbenen Berliner Elektronikers Dieter Binninger, der eine Mengenlehreuhr erfand (sie steht jetzt am Europacenter), eine seit der Wiedervereinigung rückwärtslaufende Wanduhr (sie hängt in allen PDS- Büros) und eine fast unsterbliche Glühbirne (sie brannte rund 350.000 Stunden – so lange wie die DDR: 40 Jahre). Sein Nachfolger ist ein Berliner Mathematiker, der sich ebenfalls laufend neue Rekorde ausdenkt: „Im Briefeöffnen, Verformen von Luftballons, Rubickwürfellösen usw“. „Wir wollen Selbstbewußtsein bei den Leuten schaffen“, sagt Harro Schweizer, „und dabei haben wir keine Berührungsängste vor Peinlichkeiten.“ Helmut Höge

wird fortgesetzt