: Vogelfrei und immer auf der Flucht
Stade an der Niederelbe ist eine beschauliche Stadt mit alten Gemäuern. Sie stammen aus einer Zeit, als der Ort noch zur mittelalterlichen Hanse gehörte. Kürzlich hatte die niedersächsische Kleinstadt eine schlechte Presse. Um die ansässigen „Zigeuner“ aus einigen Stader Kneipen fernzuhalten, haben mehrere Wirte mit Bedacht ein Schild mit der Aufschrift „Pferdewurst“ in ihre Fenster gehängt. Sie hatten Erfolg: Die Sinti, die seit 1948 in Stade wohnen, meiden seither die Lokale, in denen dieses Fleisch angeboten wird.
Der Grund: Das Pferd ist den Sinti heilig. „Was für die Juden das Schweinefleisch ist für die Sinti das Pferdefleisch – tabu“, sagt Berta Weiß vom Verband deutscher Sinti. „Wir sind früher mit Pferd und Wagen gereist, waren also auf diese Tiere angewiesen.“ Diese Sitte wird auch heutzutage noch von den meisten Sinti geachtet.
Eine „subtile Form von Rassismus“ nannte der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, Autor des Buches „Wie die Zigeuner – Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich“, diese boshafte Strategie der Stader Gastronomen, neu aber sei das nicht. Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten in Deutschland – und waren nie willkommen. Wie Untersuchungen der Meinungsforschungsinstitute Emnid und Allensbach belegen, haben 60 Prozent der Deutschen etwas gegen Menschen, die sich selbst Roma oder Sinti nennen, volkstümlich aber meist als „Zigeuner“ bezeichnet werden.
Die Feindlichkeit Roma und Sinti gegenüber nimmt häufig bizarre Formen an. So stellten sich vor fünf Jahren Emsländer Geschäftsleute Reisigbesen vor die Türen – das halte die „Zigeuner“ fern. In der nordwestlichen Ecke der Bundesrepublik stieg die Zahl der Roma nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten sprunghaft an. Worauf die Unternehmer bauten, um die Roma zu vertreiben, war indes nichts als Aberglaube. Danach soll der sogenannte „Hexenbesen“ jeden abschrecken, der mit dem Teufel im Bunde steht – also Hexen, Zauberer und „Zigeuner“. Den Emsländer Firmeninhabern war schließlich kein Erfolg beschieden.
Geht es um Sinti und Roma, scheint der Wust an Ressentiments unauflösbar. Zu den gängigen Vorurteilen gegen Sinti und Roma gehört, daß sie Nomaden sind. Ein Irrglaube mit wahrem Kern: 1498 hatte der Reichstag alle erwachsenen „Zigeuner“ für vogelfrei erklärt – was einem kollektiven Todesurteil gleichkam. Den Betroffenen blieb nichts anderes übrig – wollten sie überleben –, als auf die Flucht zu gehen.
Die „blutige Verfolgung“ (Wippermann) wurde Ende des 18. Jahrhunderts durch die „Zigeunergesetze“ und das Niederlassungsverbot abgelöst. Zwangsnomadisierung war die Konsequenz für die Verfolgten. Der Glaube, daß Sinti und Roma freiwillig von Stadt zu Stadt zogen, ist also Unsinn. Und daß sie immer noch mit ihrem gesamten Haushalt die Republik bereisen, sei, so der Historiker Wippermann, „schlicht falsch“.
Und: „Marianne Rosenberg zieht doch nicht mit dem Wagen durch die Gegend.“ Wie die Schlagersängerin – die am Anfang ihrer Laufbahn ihre Herkunft lieber verschwieg – sind die meisten Angehörigen dieser Minderheit seßhaft. Maximal zehn Prozent, schätzt Wippermann, leben auf Zeltplätzen – und das auch nur für wenige Wochen im Sommer.
Das Volk der Rom lebt seit mehr als 600 Jahren in Europa. Ursprünglich stammt es aus Nordindien. Von dort zogen deren Angehörige über Persien, Kleinasien und Griechenland gen Westen. Im 13. Jahrhundert teilte sich das Volk in drei Gruppen auf. Sinti siedelten in Mittel- und Westeuropa, die Gruppe der Kalé in Südfrankreich, Spanien und Portugal; die Roma wurden in Osteuropa seßhaft. Acht bis zehn Millionen Sinti, Kalé und Roma leben heute in Europa. Allein zwei Millionen davon in Rumänien: Von dort flohen 1991 und 1992 Tausende aus Angst vor Pogromen. Allein 30 Fälle wurden bekannt, in denen Roma-Dörfer zerstört wurden.
Die Verfolgung der Roma hat Tradition. In Deutschland seit dem späten Mittelalter, also seit der Ankunft der Sinti. Während des Nationalsozialismus wurden eine halbe Million Sinti und Roma ermordet. Einen Zufluchtsort gab es für die Verfolgten nicht. Die deutschen Grenzen wurden frühzeitig abgeriegelt, Hilfsmaßnahmen wurden vom Ausland – wie gelegentlich im Falle der Juden – nicht organisiert. „Die Verfolgung der Sinti und Roma traf im Ausland sogar auf Zustimmung“, sagt Wippermann.
Auch nach Kriegsende wurde die Diskriminierung der Sinti und Roma in Deutschland fortgesetzt. In den fünfziger Jahren wurde vielen die deutsche Staatsangehörigkeit verweigert; statt dessen erhielten sie „Fremdenpässe“. Ein Entschädigungsanspruch für die NS-Opfer unter den Sinti und Roma galt zunächst nicht. Ihre „rassische“ Verfolgung wurde erst 1982 von der Bundesregierung anerkannt. Das habe dann die „Wende in der Wiedergutmachungspraxis“ markiert, so Annelore Hermes von der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV). Für viele Sinti und Roma kam die Wiedergutmachung jedoch knapp 40 Jahre nach Kriegsende zu spät. Anspruch auf Entschädigung hatten außerdem nur die etwa 20.000 deutschen NS-Opfer.
Die Gesamtzahl der Sinti und der seit dem 19.Jahrhundert zugewanderten Roma wird für Deutschland auf 100.000 geschätzt. Seit September sind sie durch eine EU-Konvention neben den Dänen, Sorben und Friesen als Minderheit in Deutschland anerkannt. „Ein großer Fortschritt“, wie Annelore Hermes von der GfbV sagt. Damit sei jedoch nicht das Problem der Roma gelöst, die vor Verfolgung in Osteuropa, insbesondere auf dem Balkan, fliehen müssen.
Immer wieder wurde die Bildung eines eigenen Staates als Lösung für die Probleme der diskriminierten Minderheit diskutiert: als ein Israel der Rom. Doch ein „Zionismus“ existiert bei den Rom bislang nur in Ansätzen. Hindernis ist das Selbstverständnis der Minderheit. Wippermann: „Die hier lebenden Sinti und Roma fühlen sich nun einmal als Deutsche.“ Uta Andresen
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